Gentlemen, wir leben am Abgrund
gestern am Flughafen Tegel gelandet. Mithat hatte ihn abgeholt, heute würde er zum ersten Mal ins Büro kommen und mit dem Trainerstab arbeiten, um zumindest etwas Kontinuität zu wahren.
Konsti riss die letzte Seite mit Lukas Plänen für die nächsten Spielevom Flipchart. Er knüllte das Papier zusammen und warf es im perfekten Bogen in den Mülleimer. Dann fischte er eine schwarze Socke aus seiner Tasche und wischte damit Lukas Systemkritzeleien von der Wand hinter dem Trainerschreibtisch. Auf dem Tisch stand immer noch die Dekoflasche Williams mit dem gläsernen Basketballspieler im Innern, eine Erinnerung an die Zerbrechlichkeit der Dinge.
In der Halle reihte Marco Baldi die Spieler auf. »Der neue Coach heißt Muli Katzurin«, sagte er. »Er ist ein erfahrener Mann, er verlässt für Alba seinen Job als Sportdirektor des Israelischen Basketballverbandes. Er war polnischer Meister, er war tschechischer Meister, er war polnischer Nationaltrainer. Er ist schon in Berlin, heute Abend leitet er das Training.«
Baldi hatte seine Winterjacke anbehalten. Er sah müde aus, er wollte sich kurz fassen. In den letzten Tagen hatte er fast ohne Unterlass telefoniert und war herumgereist. »Wir haben uns zu diesem Schritt entschieden. Aber es geht hier nicht nur um den Trainer. Es geht um jeden Einzelnen von euch. Es geht um das hier.« Marco Baldi legte seine rechte Hand an die Stelle auf die Winterjacke, wo sein Herz sein musste. »Wir stehen unter Druck. Wir müssen unsere Einstellung verändern. Wir benehmen uns, als hätten wir etwas zu verteidigen. Das stimmt nicht. Wir sind nicht Meister, wir sind nicht Pokalsieger. Es gibt nichts zu verteidigen. Wir wollen angreifen. Wir wollen aggressiv und clever sein. Wir wollen Stärke. Wir wollen keine Ausreden. Manchmal denkt man ja, dass die Situation woanders besser sein könnte. Ist sie nicht. Wir haben hier hervorragende Gegebenheiten. Wenn jemand unzufrieden ist, kommt er zu mir. Oder zu Mithat. Und dann lösen wir das Problem. Aber es gibt keine Ausreden, kein Das-war-nicht-richtig-jenes-klappt-nicht-und-das-Wetter-war-auch-scheiße. Wir wollen in dieser Saison etwas erreichen. Wir wollen Erster werden. Wir wollen es jetzt! Der Coach ist erfahren genug. Er wird nicht alles verändern, und ihr wisst nicht mehr, wo ihr hinlaufen sollt. Seid aggressiv, seid smart. Im Training. Im Spiel. In jedem Spiel! Immer! Lasst uns die Chance jetzt ergreifen! Um sieben geht es los.«
Die Zeit drängte, in drei Tagen spielten wir gegen Panellinios Athen. Vor seinem ersten Abendtraining skizzierten Coach Katzurin und die Assistenten in Windeseile sechs neue Angriffssysteme. Dazu sechs alte Sets, und das Playbook für das Spiel am Donnerstag stand: zwölf Sets und Ganzfeldpresse in der Verteidigung. Coach Katzurin hatte die letzten 24 Stunden damit zugebracht, Videos von Alba Berlin zu sehen. Seine Assistenten hatten einfach weiter ihre Vorbereitungsarbeit gemacht. Der Coach wollte schnell spielen. »Was haltet ihr davon?«, sagte er. »Wir starten auf der Eins mit Hollis Price. Ich rede mit ihm. Zwei: Jenkins. Drei: McElroy. Derrick Allen auf der Vier. Und Schultze.« Der Coach klappte sein portables Videogerät zu und legte einen Stapel DVD s auf den Tisch: »Und mal ganz ehrlich, Coaches? Wir haben ein Problem mit unseren Point Guards.«
Tabula rasa auch auf dem Parkett. Nach all den Niederlagen, nach Schneewehen und organisatorischen Verwerfungen, nach der Entlassung des Trainers, nach Gerüchten, Besprechungen, Telefonaten, Besprechungen und noch mehr Besprechungen, nach Interviews undSchlagzeilen, nach Moralpredigten, Korrekturen und Disziplinarmaßnahmen gab Coach Katzurin den Spielern den Ball. Team Blau gegen Team Weiß, werfen bis 21 Treffer, Verlierer macht Liegestütz.
Die Spieler begannen zu werfen, erst Nahdistanz, dann Mitteldistanz. Dann Dreier. Die Spieler zählten mit, sie riefen die Zahlen lauter und lauter, sie brüllten die Zahlen, sie liefen immer schneller und schneller, sie passten und spürten den Ball. Blau gewann. Dann Weiß. Dann noch einmal Weiß. Dann Fast Break, Fünf-gegen-Null, Körper in Kurven, das Quietschen der Schuhe.
Konsti und Bobby erklärten die neuen Sets, Coach Katzurin schritt ab und zu ein und verbesserte. Er redete nicht viel. Dann ließ er die Spieler wieder Fünf-gegen-Fünf spielen, aufs ganze Feld. Coach Katzurin ließ die Mannschaft Basketball spielen.
Die Intensität stieg. Im ersten Training unter dem neuen Trainer kämpften die
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