Geographie der Lust
Hand auf ihr Knie.
»Avenue A.«
»Was tust du dort?«
»Die Tauben füttern.«
»Du hast Tauben?«
»Ich nicht. Gallagher.«
»Und wer ist Gallagher?«
»Ein Freund. Er war in Vietnam.«
Sie küßte ihn.
»Du bist reich?« fragte er. »Warum bist du reich?«
»Erbschaft«, antwortete sie, »hast du etwas dagegen?«
»Geld ist immer Erbschaft«, sagte er, »selbst wenn man eine Bank ausgeraubt hat, ist es Erbschaft.«
»Ist es Sünde, Geld zu haben?« fragte Laura.
»Das können nur die Reichen beurteilen. Man hat Geld oder hat keins. Man kann weder gescheit noch dumm darüber reden.«
David zog sich an und stieg in die Regenklamotten.
»Ich liebe dich«, sagte Laura.
»Du hast zu viele amerikanische Filme gesehen«, sagte David, nicht bemerkend – natürlich nicht –, wie ein mächtiger Engel an ihm vorbeiging, der Engel Sandalphon, auch Mitbruder genannt. Sandalphon geht oft und fast immer zufällig durch Räume, in denen Menschen zu Liebenden geworden sind. Er ist der Engel, so besagt die jüdische Geheimlehre, dessen Erscheinen über das Geschlecht des eben gezeugten Embryos im Schoß einer Frau entscheidet.
Der Engel Sandalphon übte seine Funktion ziemlich gelangweilt aus. Kopf oder Zahl? Er warf eine Münze in die Luft und ließ sie auf den Handrücken fallen, gähnte. Er war am Fenster stehengeblieben, um während dieses für ihn unerheblichen Ereignisses einen Blick auf das idiotische Bild einer von Lichtern gleißenden, von Menschenwürmern belebten Großstadt zu werfen. Die Münze zeigte Kopf.
Ein Mädchen sollt ihr haben, sagte er zu sich. Bei einem blinden Vater ist ein Mädchen ohnehin besser aufgehoben.
Dann hob er sich und flog – ohne eine Bewegung der Flügel – zum nächsten Planeten.
DREIZEHN
Und an diesem Morgen begann die von den drei Engeln des Regens sanktionierte Liebe. Die Liebe von Laura und David, die unaufhaltsame Liebe…
Was nun?
»Wir fahren zu dir«, sagte Laura. »Hab keine Angst, ich werd' dich nicht stören. Dann heiraten wir. Du hast doch wenigstens einen Anzug, ja?«
»Nein«, antwortete David. »Aber Gallagher hat einen. Wir sind fast gleich groß.«
»Gut.«
Laura nahm David den Blindenstock aus der Hand und winkte ein Taxi herbei.
»Endlich werd' ich wissen, ob du überhaupt eine Adresse hast oder eine Freundin. Was sind das für Zeiten! Porca miseria!«
In der Lower East Side gibt es keine vergoldeten Ratten. Es ist eine Gegend, die in dieser oder jener Straße aussieht wie die Stadt Warschau am Ende des Zweiten Weltkrieges; Trümmer, nackte Brandmauern.
Der Himmel über den dachlosen, oft ausgebrannten Gebäuden ist von künstlichem Blau; Plastiktücher sirren und klirren im Wind und fangen den Regen auf. Ein Haus ohne Dach stirbt wie eine Palme ohne Krone.
Leute gibt es hier! Der Mann zum Beispiel, der sich in zerfetzten Kleidern und in durchlöcherten Schuhen ohne Socken über die Straße zu schleppen scheint, ist ein betuchter Tourist. Inkognito, eine japanische Minikamera in den offenen Hosenlatz montiert – vielleicht der künftige Preisträger bei einem Dokumentarfilm-Festival. Wer weiß.
Das Brot, meint eine Ratte, die gemütlich über die Straße humpelt, ist in dieser Nachbarschaft besonders nahrhaft, da es viel menschliches Knochenmehl enthält. Protein. Magere, scheue Hunde irren umher.
Junge Männer, die kurzärmlige T-Shirts trugen, ließen ihre Tätowierungen wie individuelle Orden sehen. Sie feilten, hämmerten oder schraubten Lizenznummern von gestohlenen Autos.
Laura sah sich um.
Zwischen den Häuserruinen blühten kleine Gärten, gepflegt und gehegt. Es gibt auf der ganzen Welt keine so schönen Gärtchen wie gerade in dieser Lower East Side: die letzten Kirchen der Natur und der menschlichen Würde.
Das Taxi, in dem Laura und David saßen, fuhr auf der Straße mit den geschwindigkeitslindernden Schlaglöchern sehr langsam.
»368 East, achte Straße«, bemerkte der Chauffeur und hielt an. »Auch ABC-City genannt«, fügte er verächtlich hinzu.
»Eine knappe Viertelstunde«, sagte David.
VIERZEHN
»Sehen Sie!«, sagte der Chauffeur und wies mit vorgerecktem Kinn auf David, der nun, den Blindenstock unter den Arm geklemmt, mit sicheren Schritten auf eine Hausruine zuschritt: »Und der Mann will blind sein!«
Laura kurbelte das Fenster herunter und spähte zu eben jener Ruine. Die Fassade erinnerte an eine gigantische Pissoirwand und die Fensteröffnungen an eingeschlagene Zähne.
Tauben, überall
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