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Geographie der Lust

Geographie der Lust

Titel: Geographie der Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürg Federspiel
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Tauben, Grau in Grau wie Uniformierte, faschistisch, steif, Wächter über das Elend unten. Jedes Fenster war besetzt von Tauben, die sich – wie die Eiserne Garde – mit keinem Flügel rührten. Selbst der sich sonst so sinnlos auf und ab bewegende Vogelkopf verharrte petrifiziert.
    »Sie halten Nadeln oder Drahtstücke im Schnabel«, versetzte der Chauffeur, »ist das noch Amerika?« Er lachte entsetzt: »Und schauen Sie zu den Feuerleitern!«
    Ja, die Tauben marschierten in Zweierreihen die verrosteten Stufen hinunter, in lautlosem Stechschritt. Auf einer andern Treppe stiegen sie soldatisch die verrosteten Stufen hinauf, diszipliniert, denaturiert, entschlossen. Wie vor der Schlacht bei Borodino.
    Militärischer Laut war zu hören. Kein Gurren, wie es den Tauben zugeschrieben wird, ein Gurgeln vielmehr, ein hartes Gurgeln wie aus der Kehle eines vergreisten Sergeanten. Die graue Kompanie blieb stehen.
    »Es gibt Krieg«, sagte der Chauffeur traurig, »ich heiße Preston Baker, Jahrgang Neunzehnhundertdreißig, meine Frau stammt aus Brooklyn. Sie hat es immer gesagt.«
    »Schweigen Sie«, befahl Laura, »was ist das? Oben, vom Himmel her…«
    Es waren drei Taubenschwärme, die aus verschiedenen Richtungen auf das dachlose Gebäude niedersausten, offenbar abgewehrt wurden und wieder himmelwärts schossen, Kreise, drohende Kreise ziehend. Hunderte von Tauben.
    »Beim nächsten Angriff werden Bomben fallen, ich schwör's Ihnen«, flüsterte Preston Baker, der Taxichauffeur, »ich bin Spezialist in Sachen Kriegsfilme, Jesus im Himmel. Ihren Blinden sehen Sie nie wieder.«
    Jemand pochte an das Hinterfenster des Taxis. »Unsinn«, sprach Laura mit dennoch pochendem Herzen, »da ist er schon!«
    David, nun im Anzug und mit Krawatte, tastete nach der Tür, öffnete, stieg ein und setzte sich grinsend neben Laura.
    »Sind das die Tauben von Gallagher?«
    »Ja.«
    »Und was macht er in dieser dachlosen Ruine?«
    »Kriegspiele. Die Tauben langweilen sich sonst, behauptet er. Ich sag dir doch, er war in Vietnam.«
    »Losfahren!«, sagte Laura zum Chauffeur, »losfahren, hören Sie nicht?«
    Das Taxi brauste davon wie eine Hornisse.

FÜNFZEHN
    Am Union Square hatte Laura sich soweit beruhigt, daß sie dem Chauffeur sagen konnte, wohin er sie bringen sollte.
    »St.-Patricks-Kathedrale«, befahl sie.
    »Wenn Sie meinen«, sagte er.
    »Wozu?« fragte David. »Ich bin Atheist.«
    »Gott ist das egal«, antwortete sie. »Wenn man heiratet, geht man in die Kirche. O. k.?«
    »O. k.« Er gehorchte, grinsend und ergeben.
    »Zehn Minuten genügen.«
    »Fünf für einen Atheisten«, sagte David.
    »Gott schert sich einen Dreck um Atheisten«, beharrte Laura.
     
    Laura tauchte ihren Zeigefinger in das Weihwasserbecken, um sich zu bekreuzigen.
    Sie setzten sich in die letzte Reihe. Es war ein Uhr nachmittags, und die Leute gingen aus und ein.
    Laura beobachtete Geschäftsleute, die beteten und an einem Imbiß kauten, ehrfürchtige Touristen, alte Damen und einen Polizisten, der seinen Knüppel auf dem Handgelenk balancierte, aus lauter Verlegenheit.
    Und David hörte diese Geräusche: schleppende Schritte, den Dreitakt eines Mannes, der an einem Stock ging, Hüsteln und Gemurmel, das heftige Flüstern eines sich streitenden Ehepaars, und wenn die Türen für eine Viertelminute geöffnet blieben, drang der gedämpfte Lärm der Fifth Avenue in die Kathedrale.
    »Dies ist unsere Hochzeit«, sprach Laura nach einer Weile feierlich. »Wie lautet eigentlich dein Nachname?«
    »Delaware, David Dublin Delaware. Meine Mutter stammte aus Irland, deshalb Dublin.«
    »Aha.« Sie überlegte. Sie hatte keinen Mittelnamen.
    »Also«, sagte sie nach einer Weile. »Mein Name lautet Laura Bologna Granati. Wiederhole bitte!«
    »Laura Bologna Granati. Richtig?«
    Sie nickte. »Richtig. Aber du hast einen schlechten Akzent.«
    »Wie soll ich überhaupt einen Akzent haben?« antwortete er. »Für mich ist Vivaldi Radio WQXR. Die spielen von früh bis spät Vivaldi.«
    »Widersprich mir nicht in einer Kirche«, flüsterte Laura heftig. »Ich bin katholisch.«
    »Ich bin auch katholisch, wenn's sein muß.«
    »Warum hast du das nicht früher gesagt? Ich dachte, du bist Atheist, verdammt noch mal!«
    »Ein katholischer Atheist.«
    Laura zischte vor Zorn, beherrschte sich jedoch.
    »Kommen wir zur Sache. Einverstanden?«
    Er nickte.
    »Zur Sache! Warum antwortest du nicht?«
    »Ich habe genickt. Bist du auch blind? Es gibt Leute, die vor Liebe blind

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