George Soros: Gedanken und Lösungsvorschläge zum Finanzchaos in Europa und Amerika
missbrauchte dieses Privileg durch Betrug, Spanien aber nicht. Spanien betrieb eine solide makroökonomische Politik, hielt seine Staatsverschuldung unter dem europäischen Durchschnitt und unterwarf sein Bankensystem einer vorbildlichen Aufsicht. Allerdings erlebte es einen gewaltigen Immobilienboom, der dann zusammenbrach und 20 Prozent Arbeitslosigkeit nach sich zog. Jetzt muss es die Sparkassen, die sogenannten Cajas , und die Kommunen retten. Das gesamte europäische Bankensystem wird von faulen Schulden erdrückt und muss rekapitalisiert werden. Der Entwurf des Euros berücksichtigte diese Möglichkeit nicht.
Ein weiterer struktureller Fehler des Euros besteht darin, dass er nur gegen die Gefahr der Inflation schützt, aber die Möglichkeit einer Deflation ignoriert. In dieser Hinsicht ist die Aufgabe, die der Europäischen Zentralbank zugewiesen wurde, asymmetrisch. Das liegt an Deutschlands Inflationsangst. Als Deutschland der Ablösung der D-Mark durch den Euro zustimmte, bestand es auf starken Sicherheitsmaßnahmen zur Aufrechterhaltung des Werts. Der Maastricht-Vertrag enthält eine Klausel, die Rettungsaktionen ausdrücklich verbietet, und dieses Verbot wurde kürzlich vom Bundesverfassungsgericht bestätigt. Diese Klausel hat es somit schwer gemacht, die derzeitige Situation zu bewältigen.
Und das bringt mich auf den schwerwiegendsten Mangel in der Konstruktion des Euros: Er lässt keine Fehler zu. Er erwartet von den Mitgliedstaaten, dass sie die Maastricht-Kriterien einhalten – in denen es heißt, dass das Haushaltsdefizit höchstens drei Prozent und die gesamte Staatsverschuldung höchstens 60 Prozent des BIPs betragen darf, allerdings ohne die Einrichtung eines angemessenen Umsetzungsmechanismus. Und jetzt, da mehrere Länder weit von den Maastricht-Kriterien entfernt sind, gibt es weder einen Anpassungs- noch einen Ausstiegsmechanismus. Man erwartet jetzt von diesen Ländern, dass sie zu den Maastricht-Kriterien zurückkehren, auch wenn diese Maßnahme eine Deflationsspirale in Gang setzt. Das steht in direktem Widerspruch zu den Lehren aus der Großen Depression der 1930er-Jahre und das könnte Europa in eine Periode längerer Stagnation oder Schlimmeres stürzen. Dies wiederum wird Unzufriedenheit und soziale Unruhen erzeugen. Es ist schwer zu sagen, wie sich die Wut und die Frustration äußern werden.
Das breite Spektrum der Möglichkeiten wird die Finanzmärkte schwer belasten. Sie werden die Aussichten auf Deflation, Inflation, Bankrott und Desintegration einpreisen müssen. Finanzmärkte mögen keine Unsicherheit. Unterdessen ist in Ländern wie Belgien, den Niederlanden und Italien bereits ein fremdenfeindlicher und nationalistischer Extremismus auf dem Vormarsch. In einem Worst-Case-Szenario könnten solche politischen Tendenzen die Demokratie untergraben und die Europäische Union lähmen oder gar zerstören.
Wenn dies passieren würde, müsste Deutschland einen großen Teil der Verantwortung tragen, denn als stärkstes und kreditwürdigstes Land gibt es den Takt an. Durch das Beharren auf prozyklischen Maßnahmen gefährdet Deutschland die Europäische Union. Mir ist klar, dass dies eine schwere Anschuldigung ist, aber ich fürchte, sie ist ganz einfach berechtigt.
Natürlich kann man es Deutschland nicht vorwerfen, dass es eine starke Währung und einen ausgeglichenen Haushalt will. Man kann ihm allerdings vorwerfen, dass es seine Vorliebe anderen Ländern verordnet, die andere Bedürfnisse und Vorlieben haben – wie Prokrustes, der andere Menschen zwang, in seinem Bett zu liegen, und der sie streckte oder ihnen die Füße abhackte, damit sie hineinpassten. Das Prokrustesbett, das der Eurozone aufgezwungen wird, heißt Deflation.
Unglücklicherweise merkt Deutschland gar nicht, was es tut. Es will Europa gar nicht seinen Willen aufzwingen. Es will lediglich seine Wettbewerbsfähigkeit aufrechterhalten und verhindern, dass es zum Zahlmeister für den Rest Europas wird. Aber als stärkstes und kreditwürdigstes Land hat es das Sagen. Infolgedessen bestimmt Deutschland objektiv gesehen die Finanz- und Wirtschaftspolitik der Eurozone, ohne sich dessen subjektiv bewusst zu sein. Wenn alle Länder versuchen, so zu sein wie Deutschland, treiben sie die Eurozone wohl in eine Deflationsspirale. Das ist die Auswirkung der von Deutschland betriebenen Politik und – da Deutschland das Sagen hat – es ist die Politik, die der Eurozone verordnet wird.
Die deutsche Öffentlichkeit versteht
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