Georgette Heyer
gewahr, daß er immer noch ihre Hände hielt, und das mit einem
viel zu starken Griff, stand er da und starrte auf sie nieder, bis Nurse ihn
zur Vernunft rief, indem sie betont und sehr einschüchternd hüstelte. Da faßte
er sich schnell und sagte: «Aber sicher,
Miss Lanyon! Nach meiner besten Überzeugung ist es vollkommen wahr, aber obwohl
ich einige Erfahrung mit gebrochenen Knochen habe, weiß ich nichts von dem
Leiden, das Ihren Bruder lahm macht, und hielt es daher für unbedingt nötig,
um seinen Arzt zu schicken. Ich hoffe, es dauert nicht lange, bis er kommt. Bis
dahin aber – Sie sind sicher schon ungeduldig, den Jungen zu sehen. Ich bringe
Sie sofort zu ihm.»
«Danke! Ich habe unsere Nurse
mitgebracht, wie Sie sehen, und sie hat vor, hierzubleiben, damit sie sich um
ihn kümmern kann – wenn sie darf?»
«Oh, das ist sogar großartig!» sagte
er und lächelte anerkennend amüsiert, als er einem düsteren Blick aus den
feindseligen Augen der strengen Moralistin begegnete. «Sie werden genau wissen,
was für ihn zu tun ist, und wenn er Sie um sich hat, wird er sich viel wohler
fühlen.»
«Hat er große Schmerzen?» fragte
Venetia ängstlich, als Damerel sie ins Haus führte.
«Nein, jetzt nicht. Ich habe ihm
etwas Laudanum gegeben, und es scheint ihm erträglich zu gehen – aber ich
fürchte, Sie werden ihn ziemlich schläfrig antreffen.»
«Ihm Laudanum gegeben?» rief Venetia
aus. «Oh, wenn er das geschluckt hat, dann muß er grauenhaft gelitten haben! Er
will nie Medizinen nehmen – nicht einmal das mildeste Opiat, nur damit er
schlafen kann, wenn ihn die Hüfte schmerzt!»
«Oh, er hat es durchaus nicht willig
geschluckt, kann ich Ihnen versichern!» antwortete er und führte sie durch die
Marmorhalle zur großen Treppe. «Ich respektiere zwar seinen Widerwillen, aber
es wäre Wahnsinn gewesen, ihm zu erlauben, den spartanischen Jüngling zu
spielen, als er – falls ich darin nicht irre – ebensosehr an der Angst litt,
daß der sich zum Krüppel gemacht hatte, wie an den Schmerzen von seinen
abgeschlagenen Knochen. So zumindest habe ich gedacht!»
«Sie hatten sehr recht!» stimmte sie
zu. «Aber falls Sie es ihm nicht geradezu in den Hals geschüttet haben, was Sie
hoffentlich nicht getan haben, kann ich mir nicht vorstellen, wie Sie ihn überreden
konnten, es zu nehmen, denn ich kenne keinen zweiten derart widerborstigen
Menschen!»
Er lachte. «Nein, nein, ich war
nicht gezwungen, Gewalt anzuwenden!» Er öffnete die Tür zu Aubreys Zimmer,
während er sprach, und trat beiseite, um sie vorgehen zu lassen.
Aubrey lag in der Mitte eines großen
Himmelbettes und trug ein Nachthemd, das ihm um viele Nummern zu groß war, und
sah nur wie ein klägliches Bündelchen aus, aber er hatte wieder et was Farbe.
Von seiner Schwester aufgeweckt, die ihm die Finger auf das Handgelenk gelegt
hatte, öffnete er die Augen, lächelte sie schläfrig an und murmelte: «Dummchen!
Ich hab mich nur blaugeschlagen, meine Liebe – nichts von Bedeutung! Ich
glaube, ich habe ihn zu stark angetrieben – Rufus, meine ich.»
«Tolpatsch!» sagte sie liebevoll.
«Ich weiß. Damerel sagte, mehr
Hintern als Kopf.» Er faßte Nurse ins Auge, die sich, nachdem sie einen
prallgefüllten Reisesack niedergestellt hatte, ihrer Haube entledigte, ganz
mit der Miene eines Menschen, der entschlossen war, an seiner Seite zu
bleiben, was immer die Folgen sein mochten. Er würgte hervor: «O Gott, nein,
nicht das ...! Wie konntest du nur, Venetia? Nimm sie weg! Ich will verdammt
sein, wenn ich ihr Getue und Geschäume um mich haben will, als wäre ich ein
Baby!»
«Undankbarer Balg!» bemerkte
Damerel. «Es geschähe dir recht, wenn dich dein Kinderfräulein beim Wort nähme
und dich meiner Gnade ausliefern wollte. Ich würde dich bestimmt verhauen.»
Zum beträchtlichen Erstaunen
Venetias veranlaßte diese Einmischung, weit entfernt davon, Aubrey zu
verletzen, ihn zu einem winzigen Lachausbruch. Er wandte den Kopf auf dem
Kissen so, daß er Damerel ansehen konnte, und sagte: «Na, wie würde denn das
Getue von Nurse Ihnen passen, Sir?»
«Aber schon sehr! Du hast mehr
Glück, als du weißt.»
Aubrey zog eine Grimasse; aber als
Damerel das Zimmer verlassen hatte, sagte er: «Ich mag ihn – du nicht? Du
wirst ihm doch alles sagen, was sich schickt, ja? Ich glaube nicht, daß ich das
getan habe, und eigentlich müßte ich es.»
Sie beruhigte ihn diesbezüglich, und
er schloß die Augen. Bald war er eingeschlafen, so
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