Georgette Heyer
mit ihrer gewohnten freundlichen Gelassenheit offen an.
Dabei
konnte sie die Überzeugung nicht loswerden, ihm schon einmal begegnet zu sein,
und als sie angestrengt darüber nachdachte, wo das der
Fall hätte sein können, erschien eine kleine Falte zwischen ihren Brauen. Ihr
Gastgeber bemerkte es und fragte: «Bereitet Ihnen etwas Sorgen, Miss
Challoner?»
«Nein, Sir,
im Moment wohl kaum», antwortete sie lächelnd. «Vielleicht klingt es albern,
aber ich habe das unbestimmte Gefühl, Sie von irgendwoher zu kennen. Wäre das
möglich?»
Er stellte
sein Glas auf den Tisch und streckte die Hand nach der Karaffe aus. «Nein,
Miss Challoner, das ist nicht möglich.»
Eine
Sekunde lang war sie versucht, ihn nach seinem Namen zu fragen, aber da er um
so viel älter war, wollte sie unter keinen Umständen aufdringlich erscheinen.
Wenn er wollte, daß sie ihn erfuhr, würde er ihn ihr zweifellos selbst sagen.
Sie legte
ihre Serviette beiseite und erhob sich. «Ich fürchte, ich habe Sie mit meinem
Geschwätz schrecklich lange aufgehalten», sagte sie. «Darf ich Ihnen für diesen
reizenden Abend und für Ihre große Güte herzlich danken, Sir, und Ihnen hiermit
eine gute Nacht wünschen?»
«Bleiben
Sie», erwiderte er. «Ihrem guten Ruf droht keinerlei Gefahr, und die Nacht ist
noch jung. Obwohl mir nichts ferner liegt als oberflächliche
Neugier, möchte ich doch gern hören, warum Sie so ohne jeden Schutz allein
durch Frankreich reisen. Halten Sie mich für berechtigt, Sie um eine Erklärung
zu bitten?»
Sie blieb
neben ihrem Stuhl stehen. «Ja, Sir, selbstverständlich», erwiderte sie ruhig.
«Sie müssen meine Situation in der Tat sehr seltsam finden. Aber
da ich leider nicht in der Lage bin, Ihnen die Wahrheit zu sagen, und Ihnen
andererseits Ihre Güte aber nicht mit Lügen zurücczahlen möchte, glaube ich, es
ist besser, wenn ich schweige. Darf ich Ihnen jetzt
gute Nacht wünschen, Sir?»
«Noch
nicht», sagte er. «Setzen Sie sich, mein Kind.»
Sie blickte
ihn einen Augenblick zögernd an, dann gehorchte sie und faltete ihre Hände
leicht im Schoß.
Der Fremde
betrachtete sie über den Rand seines Weinglases hinweg. «Gestatten Sie mir die
Frage, weshalb Sie nicht in der Lage sind, mir die Wahrheit zu erzählen?»
Sie schien
sich die Antwort eine Weile zu überlegen. «Es gibt dafür verschiedene Gründe,
Sir. Die Wahrheit ist beinahe so seltsam wie Mr. Walpoles berühmter Roman, so
daß ich vielleicht befürchte, man würde mir keinen Glauben schenken.»
Er neigte
sein Glas und beobachtete, wie sich das Kerzenlicht darin spiegelte und den
Wein rubinrot aufglühen ließ. Dann fragte er sanft: «Sagten Sie nicht eben,
Miss Challoner, Sie würden mich nicht anlügen?»
Ihre Augen
verengten sich. «Sie sind sehr scharfsinnig, Sir.»
«Das
behauptet man allgemein von mir», stimmte er zu. Seine Worte brachten eine
Saite in ihr zum Klingen, doch sie konnte die flüchtige Erinnerung nicht
fassen. «Sie haben ganz recht, Sir. Nicht das ist der Grund, sondern vielmehr,
daß noch jemand in meine Geschichte verwickelt ist.»
«Das habe
ich vermutet», antwortete er. «Gehe ich recht in der Annahme, daß Ihre Lippen
aus Rücksicht auf diese andere Person versiegelt sind?»
«Nicht
ausschließlich, aber doch zum Teil.»
«Ihre
Gesinnung gereicht Ihnen durchaus zur Ehre, Miss Challoner, aber glauben Sie
mir, diese Diskretion ist keineswegs notwendig. Lord Vidals Taten waren stets
ein offenes Geheimnis.»
Sie fuhr
bestürzt auf und starrte ihn sprachlos vor Staunen an. «Ich hatte das Glück,
vor wenigen Tagen Ihren geschätzten Großpapa in Newmarket zu treffen», sagte er
lächelnd. «Als er hörte, daß ich nach Frankreich reisen wollte, bat er mich,
Erkundigungen über Sie einzuziehen.»
«Dann wußte
er also Bescheid?» fragte sie beschämt.
«Zweifellos.»
Sie verbarg
ihr Gesicht in den Händen. «Meine Mutter muß es ihm gesagt haben», flüsterte
sie fast unhörbar.
«Oh, dann
ist es schlimmer, als ich dachte.»
Er stellte
sein Weinglas nieder und rückte mit seinem Stuhl ein wenig vom Tisch ab. «Bitte
beunruhigen Sie sich nicht, Miss Challoner. Die Rolle eines Vertrauten ist mir
zwar sicherlich neu, aber ich glaube, ich kenne die Regeln.»
Sie stand
auf und ging zum Kamin hinüber, wo sie sich auf den Sims stützte und sich
bemühte, ihre Fassung wiederzuerlangen. Der Gentleman nahm in aller Ruhe eine
Prise Schnupftabak und wartete. Nach ein paar Minuten kehrte sie mit jener
resoluten
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