Georgette Heyer
könnte beabsichtigen, England zu verlassen. Ich ging mit ihm in den
Gasthof am Kai, und in dem Salon, den er gemietet hatte, gab ich mich ihm zu
erkennen.»
«Ich kann
mir gut vorstellen, daß Lord Vidals Gefühle jeder Beschreibung spotteten»,
sagte der Gentleman.
Sie blickte
starr vor sich hin. Dann nickte sie und sagte: «An dem, was nun folgte, Sir,
trifft Lord Vidal keine Schuld. Ich habe meine Rolle zu gut gespielt, denn ich
ließ mir ja nicht träumen, wie er sich dafür rächen würde. Ich muß ihm – nein,
ich bin ihm als ein – ein vulgäres, loses Frauenzimmer erschienen.» Sie
wandte ihm den Kopf zu. «Kennen Sie Lord Vidal, Sir?»
«Ja, Miss
Challoner.»
«Dann
werden Sie auch wissen, daß Seine Lordschaft sehr jähzornig und unbeherrscht
ist. Ich habe ihn gereizt, und – und die Folgen waren katastrophal. Er zwang mich,
an Bord seiner Jacht zu gehen, und brachte mich nach Dieppe.»
Der
Gentleman griff nach seinem Monokel und betrachtete sie interessiert. «Darf
ich fragen, wie Seine Lordschaft das anstellte? Ich fühle eine geradezu
überwältigende Neugierde, was die Methoden betrifft, die die moderne Jugend bei
einer Entführung am hellichten Tag anwendet.»
«Nun, es
war nicht sehr romantisch», gestand Miss Challoner. «Er drohte, mir den Inhalt
seiner Ginflasche in die Kehle zu gießen, um mich so betrunken zu machen, daß
ich mich nicht mehr wehren konnte.» Als sie sah, wie sich sein Blick
verfinsterte, sagte sie hastig: «Ich fürchte, Sie sind entrüstet, Sir, aber
bitte denken Sie daran, daß Seine Lordschaft wütend war.»
«Ich bin
nicht entrüstet, Miss Challoner, ich beklage nur einen solchen Mangel an
Finesse. Hat Seine Lordschaft seinen genialen Plan ausgeführt?»
«Nein, denn
ich gab nach. Mir graute entsetzlich davor, daß er mich wirklich betrunken
machen könnte, deshalb sagte ich, ich würde mit ihm gehen. Es war noch sehr
früh, und niemand war am Kai, so daß ich nicht um Hilfe rufen konnte, und weil
Seine Lordschaft noch dazu gedroht hatte, er würde mich beim geringsten Laut
sofort erwürgen, glaube ich auch nicht, daß ich es gewagt hätte. Ich begleitete
ihn an Bord der Jacht, wo mir dann während der rauhen Überfahrt schrecklich
übel wurde.»
Ein Lächeln
huschte um den Mund ihres Zuhörers.
«Mein
Beileid gilt in diesem Fall Lord Vidal. Er hat Sie bestimmt sehr strapaziös
gefunden.»
«Ich
glaube, Sie kennen ihn nicht sehr gut, Sir», meinte sie auflachend, «denn das
war ja gerade das Nette an ihm, daß er nicht ungehalten war; im Gegenteil, er
zeigte sich der Situation überraschend schnell gewachsen.»
Er
betrachtete sie mit unverhohlener Neugier. «Ich dachte bisher eigentlich, daß
ich ihn sehr gut kenne», sagte er. «Aber anscheinend habe ich mich geirrt.
Bitte fahren Sie fort: Sie beginnen mich ungeheuer zu interessieren.»
«Er hat
zwar einen furchtbaren Ruf», meinte sie ernst, «aber im Herzen ist er nicht
schlecht. Er ist nichts als ein wildes, leidenschaftliches, verzogenes Kind.»
«Ihr
Scharfsinn erfüllt mich mit tiefer Bewunderung, Miss Challoner», erwiderte der
Gentleman höflich.
«Aber es
stimmt, Sir», sagte sie mit Nachdruck, weil sie glaubte, eine leise Ironie in
seiner Stimme zu hören. «Als mir auf der Jacht so übel war ...»
Er hob
abwehrend eine schlanke Hand. «Ich akzeptiere Ihre Überzeugung von der wahren
Natur Seiner Lordschaft, liebes Kind. Ersparen Sie mir bitte die Schilderung
Ihrer Leiden auf See.»
«Es war
eine sehr schmerzliche Zeit für mich, Sir», lächelte sie. «Aber endlich kamen
wir doch in Dieppe an, wo Seine Lordschaft die Nacht
verbringen wollte. Wir aßen dort zu Abend. Ich glaube, Seine Lordschaft hatte
an Bord der Jacht getrunken, denn er war in einer geradezu verheerenden
Stimmung, und am Ende war ich gezwungen, meine Tugend auf eine etwas
drastische Weise zu schützen.»
Der
Gentleman öffnete seine Schnupftabaksdose und entnahm ihr mit spitzen Fingern
eine Prise. «Wenn es Ihnen gelungen ist, Ihre Tugend erfolgreich zu
verteidigen, meine liebe Miss Challoner, kann ich mir – wie ich Seine
Lordschaft kenne – nur zu gut vorstellen, wie drastisch die Mittel
gewesen sein müssen, zu denen Sie gegriffen haben. Sie sehen mich maßlos
gespannt zu erfahren, wie Sie das anstellten.»
«Ich habe
auf ihn geschossen», sagte sie schlicht.
Die Hand,
die soeben die Prise an eine Nüster führte, hielt für den Bruchteil einer
Sekunde mitten in der Bewegung inne. «Mein Kompliment», sagte der
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