Georgette Heyer
Dabei kam
es ihr fast so vor, als hätte sie nun ihren einzigen Freund in ganz Frankreich
verloren. Dann drehte sie sich um und ging energisch in den Gasthof.
Als sie
eintrat, fand sie sich in einem kleinen Vorraum, von dem aus eine Treppe zu den
galerieähnlichen Korridoren im ersten und zweiten Stock emporführte. Ein paar
schaukelnde Lampen erhellten die Halle, und sie bemerkte auf der einen Seite
etliche Türen, während auf der anderen ein kurzer Bogengang den Blick auf eine
gemütliche Gaststube freigab, aus der nun auch der Wirt geschäftig herbeieilte
– ein hagerer Mann mit einem scharfen Gesicht, der anscheinend die Gewohnheit
hatte, ständig zu schnüffeln. Er näherte sich ihr händereibend und mit vielen
Bücklingen, doch als er sah, daß der späte Besuch sich ganz ohne Begleitung
befand, änderte sich sein Benehmen, und er fragte sie schroff, was sie hier
wollte.
Sie war es
nicht gewöhnt, unhöflich behandelt zu werden, und richtete sich unwillkürlich
steif auf. Sie sei eben mit der Postkutsche hier angekommen, antwortete sie mit
ihrer ruhigen, kultivierten Stimme, und wünsche ein Zimmer für die Nacht.
Genau wie
der Kutscher maß sie auch der Wirt von oben bis unten, nur daß sein Blick alles
andere als freundlich war, sondern deutliche Geringschätzung ausdrückte. Damen,
die allein mit der Postkutsche reisten, waren in seinem Haus nicht gern
gesehen, das sich schmeicheln durfte, Gästen von Rang und Namen vorbehalten zu
sein. Er erkundigte sich vorsichtig, ob ihre Zofe mit ihrem Gepäck draußen
wartete, und erkannte an ihrem plötzlichen Erröten und ihren
niedergeschlagenen Augen sofort, daß sie wahrscheinlich weder über das eine
noch über das andere verfügte.
Erst in
diesem demütigenden Augenblick wurde Miss Challoner klar, wie armselig sie
wirken mußte. Sie machte sich keine Illusionen, in welchem Licht sie dadurch
zwangsläufig erschien, und es kostete sie ihre ganze Kraft, nicht einfach
schmählich die Flucht zu ergreifen.
Ihre Finger
schlossen sich fester um ihr Retikül. Sie hob den Kopf und sagte gelassen: »Wir
hatten leider einen Unfall, deshalb mußte ich mein Gepäck in Dijon
zurücklassen. Ich erwarte es morgen. Mittlerweile möchte ich ein Zimmer mieten
und eine Kleinigkeit zu Abend essen. Ein Teller Suppe wird genügen.»
Es war
unverkennbar, daß der Wirt keine Sekunde an die Existenz von Miss Challoners
Gepäck glaubte. «Sie sind an der falschen Adresse», antwortete er. «Gehen Sie
die Straße runter, dort finden Sie was für Ihresgleichen.»
Er fing
einen Blick aus Miss Challoners schönen grauen Augen auf, der ihn plötzlich
nervös machte. Womöglich stimmte die Geschichte doch? In diesem kritischen
Moment nahte ihm Verstärkung in Gestalt seiner Frau, die ebenso füllig war wie
er hager, und gebieterisch zu erfahren verlangte, was die junge Person hier
wollte.
Er
wiederholte, was Miss Challoner ihm erzählt hatte, worauf sie die Arme in die
Hüften stützte und ein bellendes Lachen ausstieß. «Für wie dumm hälst du mich,
Mädchen? Das Märchen soll ich dir glauben? Mach dich lieber auf die Socken ins
Chat Griz! Im Rayon d'Or ist kein Platz für dich. Das Gepäck noch in Dijon –
ha!»
Allem
Anschein nach hatte es keinen Zweck, an das Mitgefühl dieser resoluten Dame zu
appellieren, deshalb sagte Miss Challoner, sich mühsam beherrschend: «Ich
finde Sie ausgesprochen impertinent, meine Liebe. Ich bin Engländerin und will
Freunde von mir besuchen, die hier in der Nähe wohnen. Ich verstehe zwar, daß
Ihnen der Verlust meines Gepäcks etwas seltsam vorkommen muß, aber ...»
«Sogar
ungeheuer seltsam, Mademoiselle, wenn Sie's genau wissen wollen. Die Engländer
sind alle verrückt, sans doute, aber es sind schon eine Menge hier im
Rayon d'Or abgestiegen, ohne daß einer so insensé gewesen wäre, einer
Dame zu erlauben, allein mit der diligence zu reisen. Ich habe Ihnen
schon gesagt, hier ist kein Platz für Sie! Mir so ein Märchen aufzutischen!
Wenn Sie Engländerin sind, dann wahrscheinlich irgendeine Bedienstete, die man
wegen eines Vergehens entlassen hat. Im Chat Griz kriegen Sie bestimmt ein
Bett.»
«Der
Kutscher hat mich gewarnt, was für eine Art Herberge das ist», erwiderte Miss
Challoner. «Wenn Sie mir nicht glauben, dann darf ich Ihnen wohl erklären, daß
mein Name Challoner ist, und daß ich über genug Geld verfüge, um Ihr Zimmer zu
bezahlen.»
«Schauen
Sie, daß Sie Ihr Geld woanders anbringen», sagte die Wirtin schroff.
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