Georgette Heyer
kleinsten Makel an ihrer
äußeren Erscheinung entdecken. Sie hatte die größten kornblumenblauen Augen,
das zierlichste Stupsnäschen und den weichsten, anbetungswürdigsten Mund der
Welt. Ihre Locken, die Mrs. Challoner jeden Abend bürstete, schimmerten in
einem Goldblond, das von der gewöhnlichen Flachsfarbe weit entfernt war, und
ihr Teint besaß jene rosenblattähnliche Zartheit, die fast zu vollkommen
wirkte, um natürlich zu sein. Ihr Verstand war nicht sehr ausgeprägt, aber sie
tanzte sehr hübsch und wußte genau, wie man einen Mann zur Verzweiflung
brachte, so daß es wirklich keine Rolle spielte, daß sie erstaunlich unwissend
war und es ihr große Schwierigkeiten bereitete, auch nur einen einfachen Brief
zu schreiben.
Gerade
jetzt sprudelte sie über vor Plänen für die unmittelbare Zukunft und
unterbrach ungeduldig ihre Mutter, die über ein zerrissenes Musselinkleid
jammerte. «Oh, das ist doch nicht so schlimm, Mama, du wirst sehen, du bringst
das im Handumdrehen wieder in Ordnung. So hör doch bloß, was für eine
wunderbare Neuigkeit ich habe! Lord Vidal gibt eine Abendgesellschaft im
Vauxhall, und wir sind alle eingeladen! Es wird ein richtiges Fest mit Tanz
und Feuerwerk, und Vidal hat versprochen, daß wir auch eine Fahrt auf dem Fluß
machen, und Eliza Matcham ist ganz schrecklich wütend, weil ich nämlich bei ihm
im Boot sitzen soll, und sie hat er nicht einmal gefragt!»
«Was heißt
'wir alle', Sophia?» warf ihre Schwester ein.
«Oh, die
Matchams und ihre Cousine Peggy Delaine und noch ein paar andere», erwiderte
Sophia leichthin. «Ist das nicht eine bezaubernde Idee, Mama? Aber eines ist
jedenfalls sicher! Ich brauche unbedingt ein neues Kleid! Ich würde lieber
sterben, als daß ich wieder diesen blauen Lüstrin trage, und wenn du es nicht
fertigbringst, ein neues zu beschaffen, dann schwöre ich, daß ich überhaupt
nicht hingehe, und das wäre eine himmelschreiende Schande.»
Mrs.
Challoner sah das alles voll und ganz ein. Sie begann sofort zu überlegen, wie
man zu einer passenden Robe gelangen konnte, und erging sich in Ausrufen über
die einmalige Chance, die sich ihrer Tochter hier bot. Mitten in diesen
Freudentaumel hinein sagte Marys nüchterne Stimme: «Ich hoffe sehr, man wird
dich im Vauxhall nicht in Vidals und Miss Delaines Gesellschaft sehen, Sophia.»
«Und warum
nicht?» rief ihre Schwester und zog einen Schmollmund. «Natürlich, ich wußte
ja, daß du wieder versuchen würdest, mir den Spaß zu verderben, du ekelhaftes
Ding! Wahrscheinlich wäre es dir lieber, wenn ich brav zu Hause bliebe.»
«Ich wäre
jedenfalls unendlich beruhigt», erklärte Mary, ungerührt von Sophias bereits tränenglitzernden
Augen. Sie blickte ihre Mutter fest an. «Madam, wollen Sie sich nicht einen
Moment besinnen? Finden Sie es richtig, wenn Sie Ihrer Tochter erlauben, sich
mit einer Schauspielerin und dem berüchtigsten Lebemann von ganz London in der
Öffentlichkeit zu zeigen?»
Mrs.
Challoner meinte, es sei zweifellos ein Nachteil, daß Miss Delaine an der
Abendgesellschaft teilnehmen sollte, ließ sich aber sogleich von dem Gedanken
trösten, daß ja die beiden Schwestern Matcham Sophia begleiteten.
Mary stand
auf, und nun sah man, daß sie mittelgroß und sehr gut gewachsen war. Ihre Augen
funkelten, und ihre Stimme hatte eine schneidende Schärfe. «Bitte, Madam, wenn
Sie sich damit zufriedengeben – aber kein Mensch, der meine Schwester in einer
solchen Gesellschaft sieht, wird sie noch für das unschuldige Mädchen halten,
das sie ist.»
Sophia
knickste spöttisch. «Ach, verbindlichsten Dank, meine Liebe! Aber vielleicht
bin ich gar nicht so unschuldig, wie du glaubst. Ich versichere dir, ich weiß
genau, was ich tue.»
Mary
schaute sie einen Augenblick ernst an. «Geh nicht, Sophy!»
«Gott, wie
dramatisch!» rief Sophia kichernd. «Vermutlich hast du noch ein paar gute
Ratschläge auf Lager?»
Marys Arme
sanken wieder herab. «Gewiß, mein Kind. Heirate diesen netten Jungen, der dich
so verehrt.»
Mrs.
Challoner quiekte vor Bestürzung. «Heilige Muttergottes, du mußt verrückt sein!
Dick Burnley heiraten? Wo sie so phantastische Aussichten hat? Ich hätte gute
Lust, dir eine Ohrfeige zu geben, du dumme, aufsässige Gans!»
«Und was
sind diese phantastischen Aussichten, Madam? Wenn Sie die Kleine noch weiter
die schiefe Bahn hinuntertreiben, auf der sie sich bereits befindet, wird sie
über kurz oder lang Vidals Mätresse – wahrhaftig, ein glanzvoller
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