Georgette Heyer
Sophia auszustechen. Es war nun mehr als zwanzig Jahre her, seit die
Schwestern Gunning London im Sturm erobert hatten, und Mrs. Challoner konnte
sich nicht erinnern, die beiden gefeierten Schönheiten jemals mit eigenen Augen
gesehen zu haben, aber den Beteuerungen einiger ihrer durchaus glaubwürdigen
Bekannten zufolge übertraf Sophia bei weitem alle ihre Vorzüge. Wenn es damals
der völlig mittellosen Mrs. Gunning gelungen war, einen Earl und einen Herzog
in ihrem mit mütterlicher List ausgelegten Netz zu fangen, warum sollte es ihr
dann eine Mrs. Challoner mit ihrem ansehnlichen Leibgedinge und ohne den Makel
eines vulgären irischen Akzents nicht gleichtun? Oder, um auf dem Boden der
Tatsachen zu bleiben, zumindest was Sophia betraf, denn sie machte sich über
die Chancen ihrer Töchter keineswegs Illusionen und hatte sich schon lange
damit abgefunden, daß für Mary keine große Zukunft in den Sternen geschrieben
stand.
Dabei war
das Mädchen bei Gott nicht häßlich mit seinen klaren grauen Augen, und das
wunderbar gerade Näschen und die kurze Oberlippe ergaben ein im Grunde
eigentlich ganz reizendes Profil, doch was half das? Neben Sophia verblaßte sie
zu unauffälligem Durchschnitt. Was waren schon kastanienbraune Locken im Vergleich
mit einer Pracht im strahlendsten Blond, und wie konnten kühle graue Augen
neben zwei himmelblauen Sternen bestehen, die ein Kranz unglaublich langer Wimpern
säumte?
Dazu kam
noch eine Reihe von schwerwiegenden Nachteilen. Die hübschen grauen Augen
hatten einen verwirrend klugen, offenen Blick und funkelten manchmal in einer
Weise, die männlicher Selbstgefälligkeit sehr abträglich war. Überdies besaß
sie eine gute Portion gesunden Menschenverstand, und welcher Mann wollte schon
nüchterne Sachlichkeit, wenn er sich statt dessen an Sophias köstlicher
Naivität ergötzen konnte? Am schlimmsten aber war, daß Mary in einem sehr
exklusiven Institut erzogen worden war, was in Mrs. Challoner hin und wieder
den unangenehmen Gedanken aufkommen ließ, nun eine Art Blaustrumpf vor sich zu
haben.
Dieses Übel
hatte seinen Anfang genommen, als sich die Verwandten väterlicherseits bereit
erklärten, für die Erziehung des Mädchens zu sorgen, und Mrs. Challoner hatte sich damals wunder was
davon erwartet, aber allem Anschein nach bestand der Erfolg des Unternehmens
lediglich darin, daß Mary nun über eine Menge unnützen Wissens und einen
gewissen vornehmen Flair verfügte. Das Institut hatte junge Damen aus den
feinsten Kreisen beherbergt, doch Marys gesunder Menschenverstand reichte
leider nicht soweit, irgendeine dauerhafte Freundschaft anzuknüpfen, so daß
Mrs. Challoner ihre Träume, hier unter Umständen den Schlüssel zum Tor der
großen Welt zu finden, nur allzu bald begraben mußte und im stillen oft
wünschte, sie hätte sich nie an die Familie ihres Mannes um Hilfe gewandt, eine
Idee, die ihr zur Zeit des frühen Ablebens von Charles Challoner ausgezeichnet
erschienen war. Ihr Bruder hatte sie gewarnt, sie dürfe sich von so noblen und
einflußreichen Leuten nichts erhoffen, und jetzt sah es tatsächlich ganz so
aus, als stünde sie nicht bloß mit leeren Händen da, sondern hätte auch noch
draufgezahlt. Als General Sir Giles Challoner sich einst herabließ, sich um
die Erziehung seiner ältesten Enkelin zu kümmern, wobei er allerdings
gleichzeitig deutlich sein Desinteresse an der Witwe seines verstorbenen Sohnes
bekundete, hatte Mrs. Challoner notgedrungen nach diesem recht armseligen Köder
geschnappt, weil sie sich insgeheim in der Hoffnung wiegte, am anderen Ende der
Schnur später selbst einen dicken Fisch an Land zu ziehen, doch auch diese
Illusion platzte später wie eine Seifenblase. Man hatte Mary zwar gelegentlich
nach Buckinghamshire eingeladen, aber sowohl die Aufforderung, Mutter und
Schwester sollten sie einmal bei einem Besuch begleiten, als auch der
geringste Hinweis, daß man mit dem Gedanken an eine Adoption spielte, blieben
aus.
Es war eine
bittere Enttäuschung, aber Mrs. Challoner zweifelte als logisch denkende Frau
keine Sekunde daran, daß die Vereitelung ihrer Pläne größtenteils Mary selbst
zuzuschreiben war, die trotz ihrer großartigen Bildung nicht im leisesten
versuchte, ihre Position zu verbessern. Wenn sie sich nur ein bißchen
geschickter angestellt hätte, wäre es ihr bestimmt gelungen, sich bei ihren
Wohltätern einzuschmeicheln, aber offenbar hatte sie sich überhaupt nicht
bemüht, sich bei ihnen Liebkind zu machen,
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