Georgette Heyer
bißchen, eingelullt vom Schaukeln der Kutsche.
Ein
plötzlicher Ruck riß sie aus dem Schlummer. Sie sah Licht und hörte Stimmen und
Hufegeklapper. Sie glaubte, der Augenblick der Abrechnung sei gekommen, und
wartete äußerlich ruhig, daß man ihr beim Aussteigen behilflich war. Der Mond
schien hell, aber als sie versuchte festzustellen, wo sie sich befanden, konnte
sie nur einen Wegweiser sehen, der im Wind schwang, und sie begriff, daß die
Equipage bloß stehengeblieben war, um die Pferde zu wechseln. Der Schlag wurde
geöffnet, und sie zog sich in ihre Ecke zurück. Vidals Stimme fragte sanft:
«Bist du wach, mein kleiner Engel?»
Sie gab
keine Antwort. Wenn ich den Mut dazu hätte, würde ich mich ihm jetzt zu
erkennen geben, dachte sie, schauderte zugleich bei dem Gedanken an die Szene –
im Finstern auf einer windgepeitschten Landstraße, dem spöttischen Gelächter
der Pferdeknechte ausgeliefert.
Mit einem
leisen Lachen schloß Vidal wieder die Kutschentür, gleich darauf knallten die
Peitschen, und die Equipage fuhr an.
Mary
schlief nicht mehr, sondern saß, die Hände im Schoß gefaltet, kerzengerade da.
Einmal tauchte schemenhaft ein Reiter neben dem Fenster auf, er glitt jedoch
vorbei und verschwand in der Dunkelheit.
Sie hielten
bald ein zweites Mal, aber der Pferdewechsel war im Nu geschehen, und niemand
kam an den Schlag. Ein fahles Licht sagte ihr, daß schon der Morgen zu grauen
begann. Sie hatte nicht erwartet, daß ihr Schwindel so lange unentdeckt bleiben
würde, und fragte sich beklommen, wie spät am Tag sie wohl erst wieder
heimkommen konnte.
Die
Dämmerung erhellte allmählich auch das Innere der Kutsche. Sie bemerkte einen
Pistolenhalfter, der in ihrer Reichweite hing, und nahm für alle Fälle die
Waffe, die darin steckte, gelassen an sich. Sie war ziemlich groß für ihre
zarte Hand, und da sie sich in solchen Dingen überhaupt nicht auskannte, hatte
sie keine Ahnung, ob sie geladen war oder nicht. Trotzdem verbarg sie die
Pistole in der großen Tasche ihres Mantels, der dadurch ziemlich schwer wurde,
aber sie fühlte sich nun sicherer. Die Nervosität, die sie seit Beginn dieser
seltsamen Reise beherrschte, ließ nach. Ihre Hände waren jetzt ganz ruhig, und
sie glaubte allem, was ihr auch noch bevorstehen mochte, mit entsprechender Gelassenheit
begegnen zu können. Die endlose Fahrt beschäftigte ihre Gedanken, und sie
überlegte mit im Grunde fast verwunderlicher Gleichgültigkeit, ob sie genug
Geld für die Heimreise bei sich hatte. Hoffentlich konnte sie die Postkutsche
nach London nehmen, denn eine Mietkalesche war sicher zu teuer. Der Gedanke,
daß Vidal sie unter Umständen zurückbringen würde, kam ihr gar nicht, denn sie
war überzeugt, daß er bestimmt viel zu wütend war, um ihre unangenehme Lage in
Erwägung zu ziehen.
Als sie das
nächste Mal hielten, sah sie flüchtig, wie er, ohne sich um' sie zu kümmern,
ein frisches Pferd bestieg. Offenbar war ihm der Wunsch, möglichst schnell
voranzukommen, wichtiger als seine Geliebte. Sie wußte von Sophia, daß er immer
in einem halsbrecherischen Tempo reiste und seine Pferde bis zur Erschöpfung zu
hetzen pflegte. Andernfalls wäre wohl die Vermutung nahegelegen, dachte sie,
daß es sich um eine Flucht handelte, bei der es um Kopf und Kragen ging.
Ein paar
blasse Sonnenstrahlen brachen durch die Wolken. Mary versuchte die Strecke
Weges zu schätzen, die sie bisher zurückgelegt hatten, doch es gelang ihr
nicht. Häuser kamen in Sicht, die Equipage schwenkte in eine mit Kopfsteinen
gepflasterte Straße ein und verlangsamte ihre Fahrt.
Als sie um
eine Ecke bogen, starrte Mary plötzlich mit weit aufgerissenen Augen aus dem
Fenster – vor ihr erstreckte sich die endlose Fläche einer wogenden grauen See.
Daß Vidal beabsichtigen könnte, mit Sophia das Land zu verlassen, daran hatte
Mary nie gedacht. Sie begann zu begreifen, daß das tatsächlich sein Vorhaben
war, und schalt sich, als ihr die Geschichte von seinem jüngsten Duell einfiel,
diese Möglichkeit nicht früher in Betracht gezogen zu haben.
Die
Equipage blieb schaukelnd stehen. Mary riß ihren Blick hastig von der Jacht
los, die im Hafen vor Anker lag, und wartete, daß jemand die Tür öffnete.
Das
Trittbrett wurde heruntergeklappt, und Vidal machte selbst den Schlag auf.
«Was, noch immer maskiert?» sagte er. «Ich werde dich Jungfer Zimperlich
nennen, mein Schatz. Komm!» Er streckte ihr die Hände entgegen, aber bevor sie
sich auf seinen Arm stützen
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