Georgette Heyer
drückte ihr das
Blatt Papier in die Hand.
Sophia
hatte die Zeilen kaum überflogen, als sie einen – diesmal besonders heftigen –
hysterischen Anfall bekam, mit den Füßen auf den Boden trommelte und dabei
innerhalb weniger Sekunden in so bedenklicher Weise von krampfartigen
Zuckungen geplagt wurde, daß sich die praktische Mrs. Challoner nicht anders zu
helfen wußte, als ihr einen Krug Wasser ins Gesicht zu schütten. Während Sophia
daraufhin in einen befreienden Tränenstrom ausbrach und schluchzend die Bosheit
ihrer Schwester verwünschte, setzte sich ihre Mama an den Toilettentisch und
dachte angestrengt nach. Nach einer Weile – Sophia hatte ihre Wut inzwischen
zur Weißglut gesteigert – sagte Mrs. Challoner unvermittelt: «Halt den Mund,
Sophy. Im Grunde ist es gar kein so großes Malheur.»
Sophia
starrte sie an, und Mrs. Challoner erklärte, indem sie ihr einen ungewohnt
gereizten Blick zuwarf: «Wenn Vidal Mary schon entführt hat, werde ich ihn
zwingen, sie auch zu heiraten.»
Sophia stieß
einen erstickten Wutschrei aus. «Nein! Sie soll ihn nicht kriegen! Nein, nein
und nochmals nein! Diese Demütigung überlebe ich nicht!»
«Eigentlich
habe ich nie damit gerechnet, daß ich für Mary eine wirklich gute Partie
auftreiben könnte», fuhr ihre Mutter unbeirrt fort, «aber allmählich beginne
ich zu begreifen, daß das sogar ein ausgesprochener Glücksfall ist. Himmel, das
würde glatt die Gunnings in den Schatten stellen! Ist es zu fassen – während
ich mir die Lippen wundrede, um ihr Joshua schmackhaft zu machen, plant das
schlaue kleine Ding die ganze Zeit insgeheim, dir Vidal unter der Nase
wegzuschnappen! Was sagst du, Sophy! Ich könnte mich weiß Gott selber
auslachen, wenn ich daran denke, wie naiv ich in dieser Angelegenheit war!»
Sophia
sprang auf und ballte die Fäuste. «Mary soll Marquise wer den? Wenn ihr das
wirklich gelingt, bringe ich mich um, so wahr ich hier stehe!»
«Komm,
Schätzchen, ärgere dich nicht», versuchte Mrs. Challoner sie zu beruhigen. «So
wie du aussiehst, brauchst du keine Angst zu haben, nicht unter die Haube zu
kommen. Aber Mary, von der ich nicht im Traum gedacht hätte, daß sie sich
jemals verheiraten könnte, abgesehen von Joshua natürlich –! Sag was du willst,
das ist doch ein unglaublich glücklicher Zufall.»
«Sie wird
Vidal nicht heiraten!» Sophias Stimme zitterte, so aufgebracht war sie.
«Ha, meine Ehre wollte sie retten, das aufdringliche, widerliche Biest! Und
jetzt ist ihre eigene beim Teufel, und das freut mich. Jawohl, das freut mich!»
Mrs.
Challoner faltete Marys Brief zusammen. «Es liegt an mir, das zu verhindern,
und sei versichert, ich werde es auch tun. Mylady Vidal – ach, es ist
großartig! Ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht.»
Sophias
Finger krümmten sich wie die Krallen einer Katze. «Aber Vidal will mich! Mich,
nicht diese blöde Gans!»
«Gott, was
hat das schon zu bedeuten?» sagte Mrs. Challoner. «Schließlich ist er mit Mary
durchgebrannt. Oh, ich verbitte mir dieses trotzige Gesicht, mein Fräulein! Du
brauchst dich deshalb bestimmt nicht zu beklagen. Denk nur an O'Halloran, der
ist ganz verrückt nach dir, und erst der arme Fraser.»
«O'Halloran!»
kreischte Sophia. «Fraser! Ich soll wohl einen ganz gewöhnlichen Bürgerlichen
heiraten? Nie! Lieber gehe ich ins Wasser!»
«Nun, ich
behaupte ja keineswegs, daß du es nicht besser treffen kannst», erwiderte Mrs.
Challoner. «Und wenn Mary Vidal erst einmal auf Nummer Sicher hat, wer weiß, ob
sie dir nicht noch zu einer glänzenden Partie verhilft? Denn eines muß man ihr
lassen – gutherzig war sie immer, das habe ich seit jeher gesagt. Und sie wird
sicher nicht ihre Mama und ihre kleine Schwester vergessen, so vornehm sie auch
werden mag.»
Die
Aussicht, Mary könnte einmal eine Heirat für sie arrangieren, ging über Sophias
Nervenkraft. Sie setzte zu einem neuen hysterischen Anfall an, schwieg aber
verdutzt, als eine recht unsanfte Ohrfeige auf ihre Wange klatschte, zu der
sich ihre Mutter in der plötzlichen Erkenntnis, daß ihre ältere Tochter nun
wichtiger war als ihr verhätscheltes Nesthäkchen, hinreißen ließ.
Sophia
wurde kurzerhand zu Bett geschickt, denn Mrs. Challoner hatte im Augenblick
keine Zeit, auf ihre Launen Rücksicht zu nehmen. Ihre größte Sorge war, Mary
könnte einfach sang- und klanglos zurückkehren, ohne kompromittiert zu sein,
und die Angst davor, plötzlich ein Klopfen an der Eingangstür zu hören,
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