Georgette Heyer
ihrer peinlichen Begegnung in Dieppe bereits einmal getroffen
und vermutete, daß er über ihre Situation Bescheid wußte. Er behandelte sie
außerordentlich respektvoll, und manchmal glaubte sie, in seinem ernsten Blick
eine gewisse Sympathie zu entdecken.
Als der
Lakai ihn in den Salon führte, erhob sie sich und knickste, wobei ihr auffiel,
daß um seinen Mund ein noch herberer Zug lag als sonst. Er begrüßte sie mit
einer Verbeugung und sagte mehr feststellend als fragend: «Sie sind allein,
Madam.»
«Aber
gewiß», antwortete sie. «Hat Ihnen der Portier nicht gesagt, Sir, daß Miss –
daß Madame heute abend ausgegangen ist?»
«Ihr erster
Schluß war richtig, Madam», sagte Mr. Comyn mit einem Anflug von Düsterkeit.
«Es ist nicht Madame de Charbonne, die ich zu sehen hoffte, sondern Miss
Marling. Man sagte mir tatsächlich, daß sie ausgegangen sei, doch ich nahm mir
die Freiheit, nach Ihnen zu fragen, Madam, da ich glaubte, Sie könnten mir
vielleicht verraten, wo ich sie finden kann.»
Miss
Challoner bat ihn, Platz zu nehmen. Sie hatte die böse Vermutung, daß zwischen
Miss Marling und ihrem Auserkorenen die Dinge nicht eben in bester Ordnung
waren. Gewisse Andeutungen und ein trotziges Gehaben von seiten Julianas hatten
sie zu dem Schluß kommen lassen, daß Mr. Comyn die Dame seines Herzens
irgendwie beleidigt haben mußte, und sie erkannte nun, daß ihr später Besucher
die Miene eines Mannes zur Schau trug, dessen Geduld man auf eine harte Probe
stellte. Sie hätte ihm gern einen guten Rat gegeben, wie man Miss Marling
richtig behandelte, da sie aber meinte, sich eine solche Vertraulichkeit noch
nicht erlauben zu dürfen, beschränkte sie sich darauf zu antworten:
«Selbstverständlich, Sir. Miss Marling besucht, soviel ich weiß, einen Ball im
Hause von Madame de Saint-Vire.»
Sein
Gesichtsausdruck zeigte ihr sofort, daß ihre Offenheit fehl am Platz gewesen
war. Eine scharfe Falte erschien zwischen seinen Brauen, und auf seinen Zügen
malte sich unverkennbar grimmige Entschlossenheit, die ihm, wie Miss Challoner
insgeheim dachte, aber recht gut stand. «Sieh an», sagte er gelassen, «dann hat
sich meine Ahnung also bestätigt. Ich bin Ihnen sehr verbunden.»
Anscheinend
war er im Begriff, sich zu verabschieden, doch Miss Challoner wagte es, ihn
zurückzuhalten. «Verzeihen Sie, Mr. Comyn, aber ich habe den Eindruck, Sie sind
verärgert?»
Er lachte
kurz auf. «Keineswegs, Madam. Ich fürchte nur, ich bin an die in der feinen
Welt herrschenden Spielregeln nicht gewöhnt.»
«Wollen Sie
mich nicht ein wenig ins Vertrauen ziehen, Sir?» fragte Mary sanft. «Juliana
ist meine Freundin, und ich glaube sie ganz gut zu kennen. Wenn ich Ihnen
behilflich sein kann – ich will nur nicht, daß Sie mich für aufdringlich
halten.»
Mr. Comyn
zögerte, doch die unendliche Güte, mit der ihn Miss Challoner betrachtete,
bewog ihn, ihr Angebot anzunehmen. Er setzte sich auf einen Stuhl neben sie.
«Sie sind ein wahrer Engel, Madam. Wahrscheinlich ist es Ihnen nicht
unbekannt, daß Miss Marling und ich – wenn auch leider heimlich– verlobt sind,
ein Versprechen, durch das zumindest ich mich bisher gebunden gefühlt habe.»
«Ja, Sir,
ich weiß, und ich wünsche Ihnen beiden viel Glück», sagte Mary.
«Danke,
Madam. Sehen Sie, bevor ich in diese Stadt kam – ein Umstand, den ich
allmählich immer mehr bedaure –, hätte ich Ihre äußerst liebenswürdigen guten
Wünsche für unsere Zukunft mit ungetrübter Dankbarkeit entgegengenommen. Jetzt
aber ...» Er verstummte, und Miss Challoner wurde Zeuge, wie sich der so
ungeheuer korrekte Gentleman vor ihren Augen in einen ganz normalen grollenden
jungen Mann verwandelte. «Dem Augenschein zufolge hat Miss Marling nach
einiger Überlegung die zwingenden Argumente ihrer Mutter gelten lassen und sich
dafür entschieden, ihre Hand jemand anderem zu schenken.»
«Nein, Sir,
das kann ich auf keinen Fall glauben», sagte Mary.
Er sah sie
mit einem so kummervollen Blick an, daß es sie rührte. «Wenn ich Ihnen erkläre,
Madam, daß Miss Marling seit meiner Ankunft in Paris einen gewissen, ihrer
Familie durchaus nicht fremden französischen Gentleman fortwährend ermutigt
hat, ihr den Hof zu machen, und seine Gesellschaft bei jeder Gelegenheit der
meinen vorzog, werden Sie mir kaum noch versichern, ihre Gefühle mir gegenüber
wären unverändert.»
«Doch, Sir,
das tue ich», sagte Mary ernst. «Ich weiß zwar nicht, inwieweit sie Sie durch
ihr Benehmen
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