Georgette Heyer
und starrte aus dem Fenster auf
den herbstlich trübseligen Garten. «Und das ist ein weiterer Punkt, den ich Sie
bitten muß, nicht zu wiederholen, Madam. Denn es ist nicht wahr!»
«Das kannst
du nicht wissen, Anthony, mein armer Junge. Sie hat sich nie etwas aus dir
gemacht. Bei ihr war alles nur Eitelkeit und der Wunsch, eine einflußreiche
Dame zu werden.»
Er
schüttelte den Kopf. «Daran dachte sie nie. Ich habe nichts davon gewußt – habe
mir nie die Zeit genommen, darüber nachzudenken oder – oder es zu beachten –,
aber sie hatte mich lieb. Viel lieber, als ich sie hatte – damals. Wenn ich sie
nur finden könnte! Ich habe mir den Kopf zerbrochen, und ich kann nicht
daraufkommen, wohin sie sich gewendet haben könnte und an wen. Sie muß bei
jemandem Zuflucht gesucht haben! Du lieber Gott, Madam, die Angst läßt mich
bei Nacht nicht schla fen, denn ich fürchte, sie könnte allein in der Welt
stehen, ohne Geld, ohne Freunde, oder – nein, nein, sie muß bei Freunden sein,
von denen ich nichts weiß.»
«Höchstwahrscheinlich
ist sie zu dieser gewöhnlichen Person, ihrer Cousine, gegangen», sagte seine
Mutter gereizt.
Er erblaßte
und drehte sich rasch um. «Mrs. Hoby!» stieß er hervor. «Wie konnte ich nur
diese vergessen? Du guter Gott, was für ein Narr bin ich gewesen. Madam, ich
bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet.»
Er fuhr
noch am selben Tag nach London und begab sich sogleich zu dem Haus der Hobys.
Als er zum drittenmal geklopft hatte, öffnete ihm ein ziemlich schlampiges Dienstmädchen
die Tür und teilte ihm mit, daß ihr Herr und die gnädige Frau von London
abwesend seien. Einige weitere Fragen förderten die Auskunft zutage, daß sich
die Hobys am Tage nach Heros Verschwinden aus der Half Moon Street zu einem
Besuch nach Irland begeben hatten. Mit verfinsterter Miene fragte der Viscount,
ob diese Reise schon lange projektiert gewesen sei. Das Mädchen glaubte es
nicht: sie hatten gepackt und waren ziemlich überstürzt abgereist; sie glaubte,
daß sie durch einen Brief dazu veranlaßt worden waren. Als er aber fragte, ob
sie allein gereist seien oder ob sie eine Freundin mitgenommen hätten,
schüttelte sie den Kopf und erwiderte, daß sie das nicht sagen könne, da sie
nicht Zeugin der tatsächlichen Abreise gewesen war, sie glaube aber, daß die
Herrschaften allein gereist seien.
Der
Viscount begab sich nach Hause, um das Gehörte zu überdenken. Je mehr er
darüber nachdachte, desto überzeugter war er, daß Hero tatsächlich zu ihrer
Cousine geflohen war und jetzt von dieser Dame verborgen wurde. Er hatte
Theresa Hoby nie leiden können; ihren Gatten kannte er kaum, doch zögerte er
nicht, ihn für ganz schlechten Ton zu halten; allmählich entstand in seiner
Brust das Gefühl größter Erbitterung, weil Hero von allen Leuten gerade zu
jenen geflohen war, die er am meisten verabscheute. Er erinnerte sich, Hero
verboten zu haben, mit Mrs. Hoby einen vertrauten Verkehr aufrechtzuerhalten;
er erinnerte sich aber auch, daß sie dieses Verbot in ziemlich großzügiger
Weise ignoriert hatte, und vergaß bequemerweise, daß er dieses Verbot bloß in
der Hitze des Augenblicks ausgesprochen, aber nie ernsthaft wiederholt hatte.
Nachdem er sich Hero in allen nur möglichen schreckhaften Situationen
vorgestellt hatte, ging er dazu über, sich auszumalen, wie sie sich in einem
Gesellschaftskreis amüsierte, den er aufs äußerste mißbilligte. Eine zynische
Bemerkung, die sein Onkel Prosper hatte fallenlassen, daß dieses ausgelassene
junge Ding bestimmt darauf aus war, ihm die schrecklichste Angst seines Lebens
einzujagen, faßte Wurzel in Sherrys Gemüt und trieb ihn dazu, sich ohne das
geringste Vergnügen in dieselben Exzesse zu stürzen, denen sich Lord Wrotham
hingab. Dahinter steckte aber nichts als Prahlerei, eine Andeutung von
verletztem Stolz und mehr als eine Andeutung von Eigensinn. Es veranlaßte aber
Mr. Ringwood, die Mundwinkel herabzuziehen und hoffnungslos den Kopf zu
schütteln.
Sechs
Wochen nach Heros Verschwinden kehrten die Hobys nach London zurück. Sherry
hörte von ihrer Ankunft und wartete grimmig auf die Rückkehr seiner Frau. Doch
sie kam nicht; dafür erschien ihre Cousine – um ihr einen Besuch zu machen.
Der Viscount empfing sie, und zehn Minuten in ihrer Gesellschaft genügten, um
ihn zu überzeugen, daß sie nichts über Heros Aufenthaltsort wußte, ja nicht
einmal etwas von ihrer Abwesenheit ahnte, und daß sie nach Irland hatte fahren
müssen, um
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