Georgette Heyer
Sittenstrenge je
aufgefallen? Sie liegt im Umstand begründet, daß die Liebschaften der SaintVire
heimlich vor sich gehen, wogegen meine, wie du weißt, in aller Munde sind. Du
erfaßt doch den feinen Unterschied? Bon!» Avon hatte sich mit
übereinandergeschlagenen Beinen auf der Armlehne eines Lehnstuhls
niedergelassen. Er begann, sein Weinglas zwischen Daumen und Zeigefinger am
schlanken Schaft zu drehen. «Meine ausschweifenden Sitten – ich zitiere seine
eigenen Worte, Hugh –, mein völliger Mangel an Moral, mein besudelter Ruf, mein
lasterhafter Charakter, mein – genug damit. Es lief darauf hinaus – mein
durchaus ehrenhaft gemeinter Antrag war ein Schimpf. Er gab mir zu verstehen,
ich sei ein Wurm, der sich im Staube unter den Füßen der Familie Saint-Vire
krümme. In dieser Tonart ging's weiter, aber schließlich kam der edle Henri
doch zum Ende und zur Krönung seiner Rede. Ich sollte für meine Unverschämtheit
einen Peitschenhieb von seinen Händen erhalten. Ich! Alastair von Avon!»
«Aber,
Justin, er muß verrückt gewesen sein! Als ob du niederer Abkunft wärst! Die
Alastairs ...»
«Gewiß war
er verrückt. Diese Rothaarigen, lieber Hugh ...! Und es stand tatsächlich einiges
zwischen uns. Zweifellos hatte ich mich dann und wann ihm gegenüber abscheulich
benommen. Es kam, wie du dir denken kannst, zu einem kurzen Wortwechsel. Ich
brauchte keineswegs lange, um
zum Ende und zur Krönung meiner Rede zu gelangen. Mit einem Wort, ich
machte mir das Vergnügen, ihm mit seiner eigenen Peitsche das Gesicht
entzweizuschlagen. Er zog seinen Degen.» Avon streccte seinen Arm aus, die
Muskeln spielten unter der Seide des Ärmels. «Ich war jung, doch selbst damals
verstand ich mich schon einigermaßen auf die Kunst des Duells. Ich bohrte ihn
so gründlich an, daß meine Lakaien ihn in meiner Kutsche nach Hause führen
mußten. Als er fort war, versank ich in Nachdenken. Siehst du, mein Lieber, ich
war wie toll verliebt – oder bildete es mir zumindest ein – in diese – äh –
rothaarige Hexe. Der edle Henri hatte mir mitgeteilt, seine Schwester halte sich
durch meine Werbung für beschimpft. Mir fiel ein, daß die Dame vielleicht
meinen Antrag mißdeutet hatte. Ich suchte das Palais der SaintVire auf, um
jeden Zweifel am Ernst meiner Absichten zu beheben. Ich wurde nicht von ihrem
Vater, sondern vom edlen Henri empfangen, der auf dem Sofa lag. Auch einige
seiner Freunde waren anwesend – ich habe ihre Namen vergessen. Vor ihnen und
vor seinen Lakaien informierte er mich, daß er – äh – in loco parentis sei
und mir die Hand seiner Schwester verweigere. Weiters, daß seine Diener, sollte
ich mich ihr zu nähern wagen, mich mit der Peitsche von ihr wegtreiben würden.»
«Gott im
Himmel!» rief Hugh.
«Ja, das
dachte ich auch. Ich zog mich zurück. Was hätte ich schon tun sollen? Ich
konnte nicht mehr an den Kerl heran, hatte ich ihn doch schon fast umgebracht.
Als ich mich das nächste Mal in der Öffentlichkeit zeigte, entdeckte ich, daß
mein Besuch im Palais Saint-Vire zum Tagesgespräch von Paris geworden war. Ich
war gezwungen, Frankreich für eine Zeitlang zu verlassen. Glücklicherweise
gab's dann einen anderen Skandal, der den meinen in den Schatten stellte, und
so öffnete mir Paris nochmals seine Pforten. Ja, Hugh, es ist eine uralte
Geschichte, aber ich habe sie nicht vergessen.»
«Und er?»
«Auch er
hat sie nicht vergessen. Er war damals halbverrückt, aber als er wieder bei
Sinnen war, kam er sich nicht entschuldigen; allerdings erwartete ich's auch
nicht von ihm. Wir begegnen einander nun, als seien wir entfernt bekannt; wir
sind höflich zueinander – oh, peinlich höflich! –, aber ihm ist wohl bewußt,
daß ich noch immer warte.»
«Warten ...
worauf?»
Justin ging
zum Tisch und stellte sein Glas nieder.
«Auf eine
Gelegenheit, die Rechnung voll zu begleichen», sagte er sanft.
«Auf
Rache?» Hugh beugte sich vor. «Ich dachte, Dramatisches läge dir nicht, mein
Freund?»
«Gewiß;
doch ich hege eine regelrechte Passion für – Gerechtigkeit.»
«Seit zwanzig
Jahren hängst du Rachegedanken nach?»
«Mein
lieber Hugh, falls du dir vorstellst, daß Gier nach Rache seit zwanzig Jahren
mein vorherrschender Trieb ist, muß ich leider deine Illusion korrigieren.»
«Hat sie
sich nicht abgekühlt?» fragte Hugh, seiner 'Worte nicht achtend.
«Sehr
abgekühlt, mein Lieber, aber gefährlich ist sie noch immer.»
«Und all die Zeit
hat sich dir keine einzige
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