Georgette Heyer
vollzogen, nur die jeweiligen Eltern
wußten davon und selbstverständlich die Hebamme von Madame la Comtesse. Was
weiter mit ihr geschah, weiß ich nicht.»
«Mon
Dieu, welch eine
Geschichte!» bemerkte Madame du Deffand. «Wie mir diese Bösewichte verhaßt
sind!»
«Fahre
fort, Justin!» rief Armand scharf. «Mein Interesse ist außerordentlich groß.»
«Ja, das
dachte ich», nickte Seine Gnaden bedächtig.
«Was wurde
aus – Kains Tochter?»
«Geduld,
Armand. Wollen wir uns zuerst mit Kain und seinem angeblichen Sohn befassen.
Kain brachte plötzlich seine Familie nach Paris zurück – sagte ich schon, daß
diese Geschichte in Frankreich spielt? –, nachdem er verfügt hatte, daß der
Pflegevater seiner Tochter das Landgut zu verlassen und an einen
abgeschiedenen Ort, der jedermann, auch ihm selbst, unbekannt wäre, zu
verziehen habe. Ich glaube, an Kains Stelle hätte ich nicht so glühend
gewünscht, jegliche Spur des Kindes zu verlieren, doch er handelte so, wie er
es für das klügste hielt.»
«Herzog»,
schaltete sich Madame de la Roque ein, «es ist unfaßbar, daß eine Mutter, wer
immer sie auch sei, einem solch niederträchtigen Plan zustimmt.»
Madame de
Saint-Vire hielt ihr Taschentuch mit zitternder Hand an den Mund gepreßt.
«Nahezu
unfaßbar», bestätigte Avon sanft. «Wahrscheinlich fürchtete sich die Dame vor
ihrem Gatten. Er war ein äußerst unangenehmer Herr, glauben Sie mir.»
«Wir
glauben Ihnen das ohne weiteres», sagte Madame lächelnd. «Eine ganz gemeine
Kreatur. Fahren Sie fort!»
Unter
seinen halbgesenkten Lidern beobachtete Avon, wie Saint-Vire an seiner
Halsbinde zerrte; seine Augen schweiften weiter zu Merivales gespannten Zügen,
und er lächelte leise.
«Kain,
seine Gattin und sein angeblicher Sohn kehrten, wie ich bereits berichtete,
nach Paris zurück und versetzten den armen Abel in beträchtliche Bestürzung.
Als Abel seinen Neffen ohne eine Spur der Familienmerkmale sowohl in Aussehen
wie in Anlagen heranwachsen sah, war er wütender denn je; doch obwohl er sich
über den Knaben wunderte, verfiel er niemals auf die Wahrheit. Wie denn auch?»
Avon schüttelte seine Spitzenrüschen zurecht. «Wollen wir jetzt, nachdem wir
uns mit Kain befaßt haben, zu Kains Tochter zurückkehren. Zwölf Jahre lang
lebte sie im Innersten des Landes bei ihren Pflegeeltern, die sie als ihr
eigenes Kind aufzogen. Doch am Ende dieser Jahre schenkte das Schicksal
nochmals Kain und seinen Herzenswünschen Beachtung und sendete eine Pest, die
die Umwelt der Tochter ausrottete. Die Pest streccte sowohl den Pflegevater wie
die Pflegemutter nieder, doch meine Heldin entkam ihr, ebenso wie ihr
Pflegebruder, von dem Sie sogleich mehr vernehmen werden. Sie wurde dem
Dorfpfarrer in Obhut gegeben, der sie in seinem Haus aufnahm und für sie
sorgte. Wollen Sie bitte den Pfarrer
nicht vergessen. Er spielt in meiner Geschichte eine zwar kleine, aber wichtige
Rolle.»
«Wird das
verfangen?» flüsterte Davenant.
«Sieh dir
Saint-Vire an!» erwiderte Marling. «Der Pfarrer war eine Inspiration! Die
Überraschung hat ihn völlig übermannt!»
«Wir werden
uns an den Pfarrer erinnern», sagte Armand grimmig. «Wann spielt er seine
Rolle?»
«Jetzt,
Armand, denn in seine Hände legte die Pflegemutter meiner Heldin vor ihrem Tode
ihre – schriftliche – Beichte.»
«Oh, diese
Bäuerin konnte also schreiben?» fragte Condé, der mit gefurchter Stirn
gelauscht hatte.
«Ich nehme
an, Prinz, daß sie dereinst Kammerjungfer einer Dame der Gesellschaft gewesen
war, denn sie konnte wahrhaftig schreiben.» Avon sah befriedigt, wie Madame de
Saint-Vire die Hände im Schoß rang. «Diese Beichte liegt seit vielen Jahren in
einer versperrten Schublade des Pfarrhauses.»
«Aber er
hätte sie doch an die Öffentlichkeit bringen sollen!» warf Madame de Vauvallon
rasch ein.
«Das finde
ich auch, Madame, er war jedoch ein besonders gewissenhafter Priester und
erachtete sich durch das Siegel des Beichtgeheimnisses gebunden.»
«Und was
geschah mit dem Mädchen?» fragte Armand.
Seine
Gnaden drehte an seinen Ringen.
«Sie wurde,
mein lieber Armand, von ihrem Pflegebruder nach Paris gebracht, einem jungen
Mann, der um vieles älter war als sie. Er hieß Jean und kaufte eine Kneipe in
einer der verrufensten und übelsten Gassen. Und da es ihm nicht angezeigt
schien, ein Mädchen im zarten Alter meiner Heldin um sich zu haben, steckte er
sie in Knabenkleider.» Die sanfte Stimme wurde schärfer. «In
Weitere Kostenlose Bücher