Georgette Heyer
Knabenkleider. Ich
brauche Sie wohl weiter nicht in Unruhe zu versetzen, indem ich Ihnen von ihrem
Leben in dieser Verkleidung berichte.»
Ein
schluchzender Laut entrang sich Madame de Saint-Vires Kehle. «Ah, mon Dieu!»
Avons
Lippen verzogen sich höhnisch.
«Eine
herzzerreißende Geschichte, nicht wahr, Madame?» schnurrte er.
Saint-Vire
erhob sich halb aus seinem Stuhl und sank dann wieder zurück. Die Gäste
begannen einander fragend anzusehen.
«Weiters»,
fuhr der Herzog fort, «heiratete er eine Schlumpe, die es sich angelegen sein
ließ, meine Heldin in jeder erdenklichen Weise zu mißhandeln. Unter den Händen
dieses Weibes litt sie sieben lange Jahre.» Seine Blicke schweiften durch den
Raum. «Bis sie neunzehn Jahre alt war», sagte er. «In dieser Zeit lernte sie
das Laster und die Angst kennen und wußte gar wohl um die Bedeutung des
häßlichen Wortes Hunger. Wie sie es zustande brachte, dies zu überleben, weiß
ich nicht.»
«Herzog,
Sie erzählen uns eine schauerliche Geschichte!» sagte Condé. «Was geschah
dann?»
«Dann,
Prinz, schritt das Schicksal abermals ein und führte meine Heldin einem Mann
über den Weg, der niemals Ursache gehabt hatte, unseren Freund Kain zu lieben.
In das Leben dieses Mannes trat meine Heldin. Ihre Ähnlichkeit mit Kain
verblüffte ihn, und ein Impuls trieb ihn, sie ihrem Pflegebruder abzukaufen. Er
hatte viele Jahre lang gewartet, eine alte Schuld an Kain voll zurückzahlen zu
können; in diesem Kind erblickte er ein geeignetes Mittel hierfür, denn es war
ihm zudem das plebejische Aussehen und Auftreten von Kains angeblichem Sohn
aufgefallen. Das Glück war ihm gnädig, und als er mit meiner Heldin vor Kains
Augen trat, sah er Kains Bestürzung und reimte sich nach und nach die
Geschichte zusammen. Kain entsandte jemand, um diesem Mann, den er als seinen
Todfeind kannte, die Tochter abzukaufen. Sc wurde dessen Verdacht, vom neu
eintretenden Spieler genährt, zur Überzeugung.»
«Großer
Gott, d'Anvau», flüsterte de Sally, «wäre es möglich, daß ...»
«Pst!» entgegnete
d'Anvau. «Höre weiter zu! Die Geschichte wird immer interessanter!»
«Von Jean»,
fuhr Avon fort, «erfuhr Kains Feind Näheres über die frühere Heimat meiner
Heldin und vom Pfarrer, der dort lebte. Ich hoffe, Sie haben den Pfarrer nicht
vergessen?»
Aller Augen
waren auf den Herzog gerichtet; einige Gäste begannen bereits klar zu sehen.
Condé nickte ungeduldig.
«Nein.
Fahren Sie fort, ich bitte Sie inständig!»
Der Smaragd
an des Herzogs Finger funkelte bösartig.
«Ich bin
erleichtert. Dieser Mann suchte das entlegene Dorf auf und – äh – bearbeitete
den Pfarrer. Als er nach Paris zurückkehrte, brachte er – dies da zurück.» Avon
zog ein schmutziges und zerknittertes Stück Papier aus seiner Tasche. Er
blickte Saint-Vire spöttisch ins Gesicht, der steinern dasaß. «Dies da»,
wiederholte Seine Gnaden und legte den Zettel auf das Kaminsims hinter ihm.
Die
Spannung war fühlbar. Davenant holte tief Atem.
«Einen
Augenblick lang – glaubte ich wirklich, es hätte diese Beichte gegeben»,
flüsterte er. «Die Leute beginnen das Ganze zu erraten, Marling.»
Seine
Gnaden studierte die Malerei auf seinem Fächer.
«Sie werden
sich vielleicht wundern, warum er Kain nicht sofort anprangerte. Ich gebe zu,
daß es sein erster Gedanke war. Aber er erinnerte sich, Messieurs, der Jahre,
die Kains Tochter in der Hölle verbracht hatte, und er beschloß, auch Kain
solle die Hölle ein wenig, ein ganz klein wenig, kennenlernen.» Seine Stimme
war streng geworden, das Lächeln war von seinen Lippen gewichen. Madame du
Deffand betrachtete ihn voll Entsetzen. «Und daher, Messieurs, gebot er sich
Einhalt und spielte – ein Geduldspiel. Das war seine Art, Gericht zu halten.»
Abermals
ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen; seine dominierende
Persönlichkeit hielt die Zuhörer in erwartungsvolles Schweigen gebannt. In
dieses Schweigen fielen seine Worte langsam und ganz sachte. «Ich glaube, Kain
fühlte es», sagte er. «Er wußte von einem Tag zum nächsten nicht, wann ihn der
Schlag ereilen würde; er lebte in Todesangst; von Hoffnung und von Furcht
wurde er dahin und dorthin gerissen, Messieurs. Er gab sich sogar der
täuschenden Hoffnung hin, daß sein Feind keine Beweise habe, und hielt sich
eine Weile für sicher.» Avon lachte tonlos und sah Saint-Vire zusammenzucken.
«Doch die alten Zweifel kehrten zurück. Messieurs, er konnte nicht sicher
sein, daß es
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