Gepeinigt
sie war.
Tränen waren ungehindert in ihr Kissen gesickert, Tränen der Wut und der Schwäche. Sie hatte sie erbost weggewischt, hatte die zerschundenen Handgelenke an die Stirn, die Knöchel in die Augen gepresst, ohne Rücksicht auf die Schmerzen. Und so war die Nacht verstrichen â in einem Chaos aus Zorn und Ohnmachtsgefühlen.
Das einzig Beständige war ihr Hass auf ihren Entführer, auf dieses verfluchte Arschloch, das sie aus der Bahn geworfen hatte. Mit einem Mal fühlte sie sich wie eine ausrangierte Ware, wie eine Keramikschüssel mit einem Haarriss, von dem man nicht wusste, ob er nur kosmetisch war oder ob die Schüssel ganz auseinanderbrechen würde. Und das Schlimmste war: Sie wusste es selbst nicht, hatte keine Kontrolle darüber.
Ein friedlicher Schlaf war ausgeblieben. Erst gegen Morgen, als sie beschloss, in Zukunft noch härter, noch gemeiner, noch mutiger zu sein, war sie unruhig eingedöst. SchlieÃlich hatte das Arschloch versucht, sie fertigzumachen, und es war ihm nicht gelungen. Sie hatte sich nicht kleinkriegen lassen, ihm so oft es ging Widerstand geleistet. Und so würde sie künftig auch an ihr neues Leben herangehen: Nichts und niemand würde sie je unterkriegen.
Die Ersten, die das zu spüren bekamen, waren ihre Eltern. Ihren Anruf gestern hätte sie unmöglich annehmen können, vor allem nicht in Anwesenheit von Nick. Ihre persönlichen
Beziehungen hatten nichts, aber auch gar nichts mit ihrer Arbeit zu tun. Hauptsächlich wollte sie jedoch ihren besorgten Vorwürfen entgehen â Sprüchen wie »Wir habenâs ja gewusst«. Nein, sie würde ihnen nicht die Gelegenheit geben, ihr in ihr Leben, ihre Unabhängigkeit, ihr selbstgewähltes Singledasein hineinzupfuschen.
Ihre Eltern waren typische griechischstämmige Einwanderer: festgefahren, dominierend, patriarchalisch. Und sie, als Jüngste und einzige Tochter, hatte dies am meisten zu spüren bekommen. Ihre Kindheit hindurch hatte sie einen erbitterten Kampf gegen ihren strengen, herrschsüchtigen Vater geführt, hatte miterleben müssen, wie er ihren zwei älteren Brüdern alle Freiheiten lieÃ. Und was für Kämpfe das gewesen waren, die Fetzen waren nur so geflogen. Und jedes Mal, wenn sie sich ihrem Vater widersetzte, hatte er mit noch gröÃerer Strenge, mit noch höheren Erwartungen reagiert.
Sie hatte alles Mögliche versucht, sich dem zu entziehen, von frechen Lügen bis zu ausgeklügelten Betrügereien. Aber diese Strategien hingen oft von äuÃeren Umständen ab, davon, ob sie ihrer Familie oder anderen Mitgliedern der griechischen Gemeinde aus dem Weg gehen konnte, ob es ihr gelang, sich gegen hartnäckige Nachfragen zur Wehr zu setzen und sich nicht einschüchtern zu lassen. Erst in ihrem letzten Schuljahr war sie zufällig auf die einzig funktionierende Strategie gestoÃen: Anstatt nachzugeben, sich den Vorschriften und Züchtigungen ihres Vaters öffentlich zu beugen, hatte sie festgestellt, dass Distanz, sowohl emotionale als auch physische, und Schweigen mächtige Waffen waren. Ihr Vater hatte das natürlich gemerkt und instinktiv versucht, sie noch härter zu bestrafen. Aber am Ende war er machtlos gewesen. Je schweigsamer sie wurde, je distanzierter,
desto wirkungsloser waren seine Drohungen und StrafmaÃnahmen.
Am Ende hatte sich ein Muster herauskristallisiert. Sie wusste nun mit ihrem Vater umzugehen, und Schritt für Schritt sagte er sich von ihr los, wollte immer weniger mit ihr zu tun haben. Und das war ihr nur recht gewesen.
Nun, dreizehn Jahre nach ihrem Schulabgang, hatte sie das perfekte Verhältnis zu ihrem Vater: Sie rief zwei, drei Mal pro Jahr an, und er lieà sie in Ruhe. Ebenso wie ihre Mutter und ihre Brüder â auf seine Anweisung hin. Ob sie ihnen das übelnahm? Sie war sich nicht sicher.
Doch jetzt blieben ihr nur zwei Möglichkeiten. Sie konnte entweder selbst anrufen und darauf bestehen, dass man sie in Ruhe lieÃ, oder ihre Anrufe ignorieren und riskieren, dass sie sich wieder in ihr Leben einmischten und sie zu unterdrücken versuchten. Wie dieser Wichser, der sie entführt hatte. Sie griff zum Hörer.
11:35 Uhr
Das Piepen des Computers riss Claudia aus ihrer Versunkenheit. Von dem gestrigen Regen war längst nichts mehr zu merken, die Sonne schien grell durch die quadratischen Fenster und tauchte alles in ein gleiÃendes
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