Gequält
Bild von der seelischen Verfassung seines Freundes zu machen, lächelte aufmunternd und ging von Bord.
Der Dampfer setzte zurück, überquerte den Halfkakssund und setzte die Fahrt nach Stockholm fort. Als sie die Enge zwischen Djurgården und Kvarnholmen erreichten, verlangsamte der Kapitän das Tempo, und Calle betrachtete interessiert das Ufer auf der rechten Seite: Blockhusudden und das Dach der Thielska Galleriet auf der Anhöhe, das rote Backsteinhaus der Wallenbergs, die Bonnier-Villa Nedre Manilla, Prinz Eugens Anwesen Waldemarsudde, die italienische Botschaft, die gelben Gebäude der Schifffahrtsbehörde, die Werft auf Beckholmen.
Der Dampfer legte bei Slussen an. Calle ging von Bord und machte sich auf den Weg zur U-B ahn. Als er den Bahnsteig betrat, erkannte er, was nicht stimmte. Alle um ihn herum bereiteten sich auf eine neue Arbeitswoche vor, und er war leicht angetrunken. Er hatte das Wochenende mit aller Kraft in die Länge gezogen. Kein Wunder, dass er einsam und sein einziger Freund ein trinkfreudiger Nichtsnutz war. Es war ein fantastisches Wochenende gewesen, mit körperlicher Arbeit im Freien bei verheißungsvoller Frühlingssonne. Sie hatten gut gegessen und getrunken, über gemeinsame Erinnerungen gelacht und sich miteinander wohlgefühlt. Jörgen jedoch kehrte nach so einem Wochenende zu seiner Familie in sein Haus auf Lidingö zurück, während auf Calle nur eine leere Zweizimmerwohnung in der Tulegatan wartete. In der die Luft still stand und sich niemand mit ihm vor dem Fernseher um die Fernbedienung stritt. Calle war allein, und die Aussichten, dass er jemanden kennenlernen würde, waren nicht gerade berauschend.
Die U-B ahn fuhr in den Bahnhof ein, und Calle nahm auf einer der Bänke Platz. Er betrachtete die anderen Fahrgäste, die wegguckten. Sein Telefon vibrierte in der Hosentasche, und er ging dran.
»Ich wollte mich nur vergewissern, dass alles okay ist«, sagte Jörgen am anderen Ende.
»Kein Problem«, erwiderte Calle. »War vermutlich nur die große Wehmut.«
»Gegen die hat man kaum eine Chance«, meinte Jörgen. »Ich wollte mich nur vergewissern, dass du okay bist. Es passiert schließlich nicht oft, dass du zusammenbrichst.«
»Nein.«
»Du bist immer so stark.«
»Nicht immer.«
»Nein, aber im Innersten. Du bist der reellste Kerl, den ich kenne, obwohl du schwul bist.«
»Ja, ja, fang du jetzt nicht auch noch an zu flennen.«
Calle stieg an der Rådmansgatan aus und ging nach Hause. Er gab den Türcode ein und erklomm die zwei Stockwerke, weil der Fahrstuhl nicht im Erdgeschoss war. Eine Gratiszeitung lag auf dem Boden der Diele, sonst nichts. Calle hob sie uninteressiert auf und sah ein Bild von Anders Malmberg auf der ersten Seite, dem neuen journalistischen Shootingstar, mit dessen Eltern er gerade ein Glas Wein getrunken hatte. Der junge Held wohnte also in seinem Viertel.
6
Margit Svensson wohnte im Erdgeschoss eines Mietshauses im Zentrum von Höganäs. Sie war Anfang fünfzig, sah aber älter aus.
»Willkommen. Treten Sie doch ein.«
Calle Collin zog seine Schuhe aus und hängte seine Jacke auf den Kleiderbügel, den sie ihm hinhielt. Er verwendete stets Block und Kugelschreiber. Tonbänder machten die Leute nervös und halfen ohnehin nicht weiter, wenn man aus dem unzusammenhängenden Gestammel, aus dem ein Interview in der Regel bestand, zusammenhängende Sätze formulieren wollte.
»Kaffee?«, fragte Margit und klatschte in die Hände, als hätte sie die Losung ausgesprochen, die ihr den Eintritt ins Himmelreich gewährte.
»Vielen Dank, gerne.«
Calle folgte ihr in die Küche. Die Einrichtung verriet Margit Svenssons Klassenzugehörigkeit. Von allem etwas zu viel. Billiger Nippes statt der kostspieligen Schlichtheit der Wohlhabenden.
»Nehmen Sie doch Platz.«
Margit deutete auf den gedeckten Tisch.
»Danke«, antwortete Calle, blieb jedoch höflicherweise stehen. »Kommt noch jemand?«
Auf dem Tisch standen vier Tassen.
»Mein jüngster Sohn kommt noch mit seiner Freundin«, sagte sie und goss den Kaffee aus der Kaffeemaschine in eine silberfarbene, verschnörkelte Thermoskanne.
Es klingelte.
»Wunderbar. Sie sind pünktlich.«
Calle wartete in der Küche und hörte, wie sich die anderen in der Diele begrüßten. Margit ging vor ihnen her in die Küche. Als der Sohn eintrat, wurde der Raum kleiner.
»Das ist Mattias … «
»Matte«, korrigierte der gut und gerne zwei Meter große Mann seine Mutter und begrüßte Calle mit einem
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