Geräusch einer Schnecke beim Essen
Substanzen, ehe sie diese zu sich nimmt.
Mithilfe von Geschmacksknospen auf ihren unteren Fühlern konnte meine Schnecke salzig, bitter und süß unterscheiden. Die Tausenden von Chemorezeptoren auf ihren oberen Fühlern ähnelten denen in der menschlichen Nase. Schnecken «sehen» die Welt über den Geruch, so wie viele Insekten, und sie können über wenige in der Luft schwebende Moleküle Aromen ausmachen.
In ihrem natürlichen Lebensraum bestimmte meine Schnecke den Ursprung eines Geruchs und die Entfernung, aus der er herangetragen wurde, auf der Grundlage von Windgeschwindigkeit und -richtung. Durch mein Zimmer wehte kein Waldgeruch, und das Kaleidoskop von unbekannten Gerüchen – nach Menschen, Menschennahrung, Tee, Seife, Papier, Tinte – muss für die Schnecke, besonders als sie noch im Veilchentopf lebte, überraschend gewesen sein.
Im Gegensatz zur menschlichen Nase, die für ihre Absonderungen berüchtigt ist, sind die nasenartigen Fühler der Schnecke der einzige schleimfreie Teil ihres Körpers. Und anders als der Mensch mit seinen stationären, nebeneinander angeordneten Nasenlöchern hat die Schnecke durch ihre beiden voneinander unabhängigen Fühlernasen eine Art stereoskopischen Geruchssinn. Ich stellte mir vor, wie eine Gruppe Menschen, deren Arme vollständig von Geruchsrezeptoren bedeckt waren, durch die Innenstadt lief. Während sie an Cafés, Bäckereien, Restaurants vorbeigingen, wedelten ihre Arme heftig in Richtung der Düfte. Ein solcherart ausgestatteter Restaurantkritiker könnte nach einer ausladenden Armbewegung nicht nur über seine eigene Vorspeise, sondern auch über die der Gäste an den Nachbartischen berichten.
Zwar hatte die Schnecke also ein hoch entwickeltes Geruchssystem, doch fragte ich mich, wie sie wohl ein Leben so ganz ohne Bilder und Klänge erlebte. In ihrem heimischen Wald konnte meine Schnecke weder das Moos sehen, über das sie glitt, noch die Pflanzen, an denen sie hinaufkletterte. Sie konnte die Bäume nicht sehen und auch die Sterne am Himmel nicht. Sie konnte weder das Vogelgezwitscher bei Tagesanbruch hören noch das mitternächtliche Geheul der Kojoten. Sie konnte nicht einmal ihre eigenen Verwandten sehen, geschweige denn irgendwelche Räuber. Sie konnte ihre Welt nur riechen, schmecken und fühlen.
Helen Kellers Autobiographie T he World I live in [Meine Welt] , in der sie aus ihrer eigenen, menschlichen Perspektive die unglaubliche Vielfalt von Tast- und Geruchseindrücken schildert, vermittelt wahrscheinlich noch am ehesten eine Vorstellung davon, wie die Schnecke ihre Umgebung wahrnahm:
Ich könnte nicht sagen, ob mir das Riechen oder das Tasten die Welt besser erschließt. In den Strom der Tastwahrnehmungen münden immer und überall die Bäche des Geruchs…
Tastwahrnehmungen sind dauerhaft und eindeutig. Gerüche wandeln sich und sind flüchtig, ihre Note, Intensität und räumliche Zuordnung verändern sich. Gerüchen eignet zudem etwas, das mir ein Gefühl für Entfernungen gibt. Ich möchte es Horizont nennen: die Linie, an der sich, da sie die äußerste Reichweite des Geruchssinns markiert, Geruch und Phantasie treffen.
Ich fragte mich, ob meine Schnecke einen «Geruchshorizont» hatte und wie weit wohl der Duft eines Pilzes durch die Luft getragen wurde. Die Navigation der Schnecke ist ein komplexer Vorgang, eine Reaktion auf ständig wechselnde Gerüche, Licht und Dunkel, die taktile Wahrnehmung von Luftbewegungen sowie, über die Berührungsrezeptoren in ihrem Kriechfuß, von Vibrationen und Unterschieden im Gelände. Auf diese Weise erforschte und erfasste die Schnecke den urwüchsigen Wald, aus dem sie stammte, ebenso wie die Kiste, auf der ihr Veilchentopf stand, und das Terrarium.
Ich sichtete Fachliteratur über Gastropoden, um mehr über meine Gefährtin zu erfahren. Ich fand heraus, dass Schnecken sehr empfindlich auf toxische Substanzen reagieren, die durch Umweltverschmutzung in ihre Nahrung geraten, und ebenso auf Veränderungen der äußeren Bedingungen – Temperatur, Feuchtigkeit, Wind, Vibration. Das konnte ich gut nachvollziehen, denn aufgrund meines dysfunktionalen vegetativen Nervensystems reagierte ich in diesen Bereichen ebenfalls sehr empfindlich.
Da ich die meisten Medikamente nicht vertrug, bekam ich Präparate in solch winzigen Dosen verschrieben, dass ein Apotheker einmal anmerkte, es komme ihm vor, als dispensiere er Arzneien für eine Maus. Die Regulierung meiner Körpertemperatur
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