Geräusch einer Schnecke beim Essen
funktionierte nicht mehr. Im einen Moment fröstelte ich, im nächsten war mir heiß, insofern erschien mir das Leben eines Kaltblüters sehr verlockend. Vor meiner Krankheit hatte ich geschlafen wie ein Stein, ohne die Fenster zu verdunkeln, doch jetzt musste es im Zimmer stockfinster sein. Das Klingeln des Telefons durchfuhr meinen ganzen Körper mit der Wucht eines Tsunami, also stellte ich es ab. Ich konnte nur langsame, gleichförmige Musik anhören, einzeln hervorgehobene Töne empfand ich als quälend. Meine musikalische Unterhaltung beschränkte sich daher auf die Ruhe gregorianischer Gesänge in kaum hörbarer Lautstärke. Ich fragte mich, ob die Schnecke die Schallwellen spürte und wie es die Benediktiner wohl fänden, für einen Gastropoden zu singen.
9 . Wundersame Spiralen
Und wie die Schnecke, die durchs Land
streyfft unentwegt
Doch stets zu Haus ist, da ihr Haus sie
bei sich trägt.
John Donne, To Sir Henry Wotton , 1598
Wenn meine Schnecke schlief, betrachtete ich mit Freude die schöne Spirale ihres Gehäuses. Es war ein winziges architektonisches Meisterstück. Da der Radius der Spirale sich exponentiell vergrößert, entspricht er der Definition einer logarithmischen beziehungsweise gleichwinkligen Spirale. Auch als spira mirabilis , wundersame Spirale bekannt, ist sie die Ursache des vermeintlichen Meeresrauschens, das man hört, wenn man sich ein leeres Schneckenhaus ans Ohr hält: Außengeräusche, die in die gebogene Kammer gelangen, werden zwischen den Wänden hin und her geworfen und vermischen sich zu einem anhaltenden brandungsartigen Geräusch.
1905 hielt G. A. Frank Knight in der Perthshire Society of Natural Science einen Vortrag, in dem er bemerkte:
Das Phänomen der Windungen bei den Mollusken ist äußerst interessant und hat herausragende Wissenschaftler zu Forschungen angeregt… Das Tier wird sich mit unfehlbarer Sicherheit eine Behausung erschaffen, die… in der Gestaltung ihrer Windungen und ihren Proportionen strikt den Prinzipien der Geometrie gehorcht… Spielraum besteht hinsichtlich der unendlich variablen Folge der Windungen sowie ihrer Breite… [doch] das Gesetz der «logarithmischen Spirale» muss stets befolgt werden.
In den meisten Sprachen bezieht sich das Wort, das die Schnecke bezeichnet, auf die Spiralform ihres Gehäuses. In Wabanaki, einer Sprache der amerikanischen Ureinwohner, lautet das entsprechende Wort Wiwilimeq , was «spiralförmiges Wassertier» bedeutet. Giovanni Francesco Angelita, ein italienischer Gelehrter, schrieb 1607 einen Aufsatz mit dem Titel Über die Schnecke, und dass sie ein Vorbild für das menschliche Leben sey . Er preist die bedächtige Gangart und gute Moral des Tiers, das ihm als die Inspirationsquelle schlechthin für alles vom Menschen geschaffene Spiralförmige gilt, vom Bohrer bis hin zu Europas berühmtesten Treppen.
Während die Schnecke wächst, scheidet ihr Mantel an der Öffnung des Gehäuses bestimmte Substanzen aus, mit denen die Schale parallel zum Körperwachstum verlängert und verbreitert wird. Das Gehäuse der Schnecke ist, so wird der Naturforscher Searles Wood, der im neunzehnten Jahrhundert lebte, in dem fünfbändigen Werk British Conchology zitiert, «ein wesentlicher Bestandteil des Thiers». Und Edgar Allan Poe kommentiert 1839 im Vorwort zu T he Conchologist’s First Book [Grundwissen für Konchyliologen] – in einer skurrilen Abweichung von seinen gewohnten Schauergeschichten –: «Dem Verhältnis zwischen Thier und Gehäuse in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit kommt bei ihrer jeweiligen Untersuchung größte Bedeutung zu.» Das Gehäuse meiner Schnecke wies fünfeinhalb Windungen um den Mittelpunkt herum auf. Die Wachstumslinien waren gut zu erkennen, und die fertige Schale war an der Öffnung elegant mit einer breiten, cremefarbenen Mündungslippe abgeschlossen. Ob dieser gebogene Rand die Gehäuseöffnung verstärkte? Vielleicht stellte er ja auch eine Art natürliche Abflussrinne dar. Bald sollte ich erfahren, dass dieses Detail ein unumstößlicher Beweis für die Reife meiner Schnecke war.
In Italo Calvinos Buch Cosmicomics lässt sich in der Erzählung Die Spirale die erzählende Molluske über die Kunst des Schalenbaus aus und sinniert darüber, was es heißt, zum Teil aus Schale zu bestehen. Doch es war die gastropodische Erzählerin in Elizabeth Bishops Gedicht Riesenschnecke , die mich durch ihr Entzücken an ihrem eigenen Gehäuse so weit brachte, dass ich am
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