Geraubte Erinnerung
Vergleichssuchen anhand der Überwachungsbänder durchzuführen. Ich hielt mich in sicherer Entfernung von derMall und parkte den Truck auf einem Parkplatz östlich der Union Station.
Wir gingen eilig auf das massive weiße Granitgebäude und den Haupteingang zu. Rachel hielt sich ständig an meiner Seite. In ihrer rechten Hand baumelte eine Einkaufstüte von Kinko’s. Sie wusste nicht, dass ich den Revolver hinten im Hosenbund bei mir trug, unter dem Hemd. Falls es am Eingang zur Station Metalldetektoren gab, würde ich zum Truck umkehren müssen. Dutzende von Leuten standen Schlange vor dem Eingang, doch nachdem ich den Besucherstrom ein paar Sekunden lang beobachtet hatte, atmete ich erleichtert auf. Die Menschenströme bewegten sich zu schnell durch die Türen, als dass es ernsthafte Sicherheitskontrollen hätte geben können.
Als wir ebenfalls hindurch waren, mischten wir uns unter die Menge, die sich durch die renovierte, im Stil der Beaux Arts errichtete Halle bewegte. Wir passierten ein Restaurant, das mitten in der Halle auf einer Säule stand, und bewegten uns weiter durch die gewaltige Haupthalle. Sie mündete in eine Mall, die sich über mehrere Ebenen erstreckte und in der sich Gruppen von Touristen, Pendlern, Reisenden und Schaufensterbummelnden gegenseitig auf den Laufstegen und geschwungenen Treppen anrempelten, während sie die Skulpturen und Auslagen bewunderten. Am Rumpeln unter meinen Füßen merkte ich, dass irgendwo in der Nähe Züge verkehrten, und doch sah meine Umgebung so sauber und gepflegt aus wie ein Museum.
»Da ist das Au Bon Pain«, sagte Rachel und zog mich mit sich nach links.
Ein riesiger Buchladen bildete das diesseitige Ende der Mall, und das Au Bon Pain lag unmittelbar rechts davon. Menschen gingen im Café in rascher Folge ein und aus, und ich sah, dass unser Kontakt den Treffpunkt gut gewählt hatte.
Rachel ging durch den weiten Eingang und stellte sich in eine Schlange vor einer Reihe von Kaffeemaschinen auf einem Marmortresen. Ich gesellte mich zu ihr, während ich beiläufig die Tische zu unserer Rechten in Augenschein nahm. Rachel sollte, sohatte man ihr gesagt, nach einer Frau mit einem Buch von Simone de Beauvoir Ausschau halten, Le Deuxième Sexe. Ich war sicher, dass ich die Frau, die dieses Buch bei sich trug, allein an ihrem Aussehen würde erkennen können.
An einem Tisch in der Nähe bemerkte ich eine rothaarige Frau von um die fünfzig, ohne Make-up und mit einem harten Mund. Sie hielt die Blicke auf den Tisch gerichtet, als fürchtete sie, ein Fremder könnte sie ansprechen. Ich war bereit, hundert Dollar zu wetten, dass sie unsere Kontaktperson war, als Rachel mich am Arm zupfte und auf eine Afro-Amerikanerin von vielleicht vierzig Jahren deutete, die an der Gebäcktheke stand und in Le Deuxième Sexe las. Rachel verließ die Schlange und näherte sich der Frau.
»Ich habe dieses Buch seit Jahren nicht mehr gesehen!«, sagte sie. »Nicht mehr seit meiner Zeit auf dem College. Ist es heute immer noch so bedeutend?«
Die Frau blickte auf und lächelte mit freundlichen, hellen Augen. »Es mag ein wenig altmodisch sein, aber aus historischer Perspektive ist es auf jeden Fall ein wertvoller Beitrag.« Sie streckte Rachel eine braune, mit juwelenbesetzten Ringen geschmückte Hand hin. »Ich bin Mary Venable.«
»Hannah Stephens«, erwiderte Rachel. »Erfreut, Sie kennen zu lernen.«
Ich war erstaunt, mit welcher Leichtigkeit sie in ihre Rolle schlüpfte. Vielleicht waren Psychiater geborene Lügner. Als ich mich den beiden Frauen näherte, hörte ich Mary Venable leise sagen: »Es ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen, Doktor. Sie haben ja so vielen Menschen geholfen!«
»Danke sehr«, antwortete Rachel. Dann, ein gutes Stück lauter, fuhr sie fort: »Ich konnte nie verstehen, was Simone an diesem Sartre als Geliebtem fand! Der Mann sah aus wie ein Frosch, wenn Sie mich fragen! Und damit meine ich nicht, dass er wie ein typischer Franzose aussah, sondern tatsächlich wie ein Frosch!«
Mary Venable lachte so natürlich, dass ich beinahe nichtbemerkt hätte, wie sie die Tüte von Kinko’s aus Rachels Hand nahm und in eine große afrikanische Webtasche zu ihren Füßen fallen ließ.
»Falls ich es heute noch zu Ende lese«, sagte Mary Venable, »kann ich es Ihnen morgen ausleihen. Ich bin um die gleiche Zeit hier wie heute.«
»Dann sehen wir uns vielleicht morgen wieder«, sagte Rachel.
Mary Venable beugte sich ein wenig vor und sagte ganz leise:
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