Geraubte Erinnerung
deinen Freund erreichen, sollten wir anschließend die Telefonzelle beobachten und abwarten, ob jemand auftaucht, um nachzusehen. Das wird uns verraten, ob sein Anschluss abgehört wird oder nicht.«
»Okay.« Sie beugte sich vor und küsste mich auf den Mund. »Dann bringen wir es hinter uns.«
Fünf Meilen westlich vom Motel entdeckte ich eine Telefonzelle vor einer Tankstelle am Columbia Pike, die einigermaßen abseits stand. Ich parkte den Truck so, dass ich die Straße im Auge behalten konnte, während Rachel ihren Anruf machte.
Sie marschierte geradewegs zur Telefonzelle und schob die Telefonkarte ein, die wir in einem Quik Stop in der Nähe des Motels gekauft hatten. Nach wenigen Augenblicken lächelte sie, winkte mir mit erhobenem Daumen und begann zu sprechen. Die Unterhaltung dauerte außergewöhnlich lange, doch sie schien gut zu verlaufen, denn ich sah, wie sie unsere fiktiven Namen vom Meldezettel des Motels ablas, Mr und Mrs JohnDavid Stephens. Rachels »Mädchenname« lautete Horowitz, und in ihrem Pass würde Hannah Horowitz Stephens stehen. Während Rachel sprach, überlegte ich, wie sehr dieser Freund sie geliebt haben musste, um ihr nach fünfzehn Jahren noch einen Gefallen wie diesen zu tun. Sie legte auf und kehrte zum Wagen zurück.
»Und?«, fragte ich.
Sie stieg ein und schloss die Tür. »Alles in Butter. Er macht die Reservierungen für uns. Das Flugzeug, das Hotel, sogar ein paar Besichtigungstouren.«
»Fliegen wir von New York aus?« Wir konnten nicht riskieren, auch nur eine Stunde länger als nötig in Washington zu bleiben.
»Ja.«
»Wer ist dieser Bursche?«
»Er heißt Adam Stern und arbeitet als Geburtshelfer in Manhattan. Er hat inzwischen vier Kinder.«
»Der Mann muss dich früher einmal sehr geliebt haben.«
Sie lächelte schief. »Sie kommen alle nie über mich hinweg.«
Ich fuhr hundert Meter die Straße hinauf, parkte und ließ den Motor laufen. Von dieser Stelle aus konnten wir die Telefonzelle beobachten.
»Adam sagt, es wäre absolute Hochsaison für Touristen in Israel diese Woche«, berichtete Rachel. »Ostern in Jerusalem ist wohl wie Mardi Gras in New Orleans.«
»Das könnte sich als Vorteil für uns erweisen«, sagte ich.
»Falls wir überhaupt einen Flug bekommen. Er versucht noch andere Gesellschaften außer El Al, aber er kann nichts garantieren.«
»Ist doch völlig egal, mit wem wir fliegen. Im Augenblick sieht es noch nicht danach aus, als wäre eine öffentliche Fahndung nach uns im Gange.«
Wir saßen eine Weile da, während der Motor leise im Leerlauf brabbelte, doch niemand näherte sich der Telefonzelle. Ich schob meine Hand über den Sitz zu ihr und nahm die ihre.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich.
Sie nickte, ohne mich anzusehen. »Es ist lange her, dass ich mich gut gefühlt habe hinterher. Nach dem, was wir getan haben, meine ich.«
Ich drückte ihre Hand, und sie wandte sich zu mir um. Ihre Augen waren groß und feucht. Erst in dieser Sekunde wurde mir bewusst, wie lange Rachel ohne jede Intimität gelebt haben musste. Wahrscheinlich genauso lange wie ich selbst.
»Ich bin froh, dass du bei mir bist«, sagte ich. »Und ich bin froh, dass du mit mir nach Israel kommst. Ohne dich würde ich es nicht schaffen.«
Sie zog ihre Hand zurück und wischte sich über die Augen.
Ich sah zur Telefonzelle. Niemand in der Nähe. »Ich schätze, das Gespräch wurde nicht abgehört. Möchtest du dich endlich richtig ausschlafen?«
»Ich möchte endlich einen Cheeseburger. Und dann schlafen.«
Gegen halb zehn am nächsten Morgen überquerten wir die Memorial Bridge und fuhren in Richtung Lincoln Memorial. Das letzte Mal war ich wegen einer Folge der NOVA-Serie in Washington gewesen, der Filmserie, die auf meinem Buch basierte. Der Kontrast zwischen dem Besuch damals und heute hätte größer nicht sein können.
In der Nähe des Capitol Hill fanden wir einen Kinko’s Copy Shop, und innerhalb von zwanzig Minuten waren wir im Besitz der Passfotos, die wir im Au Bon Pain Café in der Union Station abliefern sollten. Je näher wir dem Bahnhof kamen, desto stärker wurde der Fußgängerverkehr, und meine Nervosität nahm zu. Da Washington ganz oben auf der Liste der Ziele für terroristische Anschläge stand, gab es ohne den Zweifel in der Nähe sämtlicher wichtiger Gebäude Überwachungskameras. Sie mochten vielleicht nicht sichtbar sein, doch sie waren da. Und die NSA-Computer verfügten über die notwendige Rechenkraft, um visuelle
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