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Geraubte Erinnerung

Geraubte Erinnerung

Titel: Geraubte Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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Schmerz resultieren, hat freier Wille keine Bedeutung. Das ist der Grund, weshalb es in unserer Welt so viel Schlechtes gibt. Ich weiß nicht, welche Religion diese Ansicht vertritt, aber welche auch immer es ist, es ist das, was ich glaube.«
    »Das ist eine gute Erklärung für die Welt, in der wir leben. Doch es ist keine Erklärung für das zentrale Geheimnis. Warum sollte sich Gott veranlasst fühlen, überhaupt irgendetwas zu erschaffen?«
    »Ich glaube nicht, dass wir darauf je eine Antwort erfahren.«
    »Vielleicht doch. Unsere Sonne brennt noch weitere fünf Milliarden Jahre. Selbst wenn das Universum dadurch endet, dass es wieder in sich zusammenfällt – der ›Big Crunch‹, das Gegenteil des ›Big Bang‹ –, geschieht das frühestens in zwanzig Milliarden Jahren. Wenn wir uns nicht selbst vernichten, bleibt uns reichlich Zeit, um diese Frage zu beantworten. Vielleicht sogar genug Zeit, um alle Fragen zu beantworten.«
    Sie lächelte. »Aber wir beide werden die Antworten nicht erfahren.«
    Ich sah in ihre dunklen Augen, und mir wurde bewusst, wie wenig ich über sie wusste. »Du bist nicht annähernd so konventionell, wie du zu sein vorgibst. Ich wünschte, du hättest Fielding kennen gelernt.«
    »Was hat er über Gott gedacht?«
    »Andrew hatte ein großes Problem mit dem Bösen. Er wurdeim christlichen Glauben erzogen, doch er hat gesagt, dass weder die Juden noch die Christen sich jemals dem Bösen gestellt hätten.«
    »Was hat er damit gemeint?«
    »Er zitierte immer wieder drei Aussagen. ›Gott ist allmächtig. Gott ist gut. Das Böse existiert.‹ Man kann zwei dieser Aussagen in Einklang bringen, niemals jedoch alle drei.«
    Rachel nickte nachdenklich.
    »Fielding hielt die östlichen Religionen für die einzigen wahrhaft monotheistischen, weil sie einräumen, dass auch das Böse von Gott ausgeht, anstatt zu versuchen, das Böse einem geringeren Wesen wie Satan zuzuschreiben.«
    »Und du?«, fragte Rachel. »Was glaubst du, woher das Böse kommt?«
    »Aus dem menschlichen Herzen.«
    »Das Herz ist ein Muskel, der Blut pumpt, David.«
    »Du weißt, was ich meine. Die Psyche. Der dunkle Schacht, in dem sich primitive Instinkte mit menschlicher Intelligenz vermischen. Wenn man die Ungeheuerlichkeiten betrachtet, zu der Menschen in der Lage sind, fällt es einem schwer zu glauben, dass ein göttlicher Plan dahinter stecken soll. Ich meine, sieh dir doch nur an, was mit deinem Großvater geschehen ist.«
    Rachel packte mich am Arm und sah mich mit beinahe verzweifelter Eindringlichkeit an. »An dem Tag, an dem mein Großvater ermordet wurde, gab es einen Augenblick, in dem er den SS-Mann hätte töten können. Sie waren allein in einem Steinbruch, ein Wächter und drei Gefangene. Die Amerikaner waren nur noch einen Tag entfernt. Aber mein Großvater hat es nicht getan.«
    »Warum nicht?«, fragte ich, erstaunt wegen ihrer plötzlichen Leidenschaft.
    »Ich glaube, er wusste etwas, das wir heute vergessen haben.«
    »Was?«
    »Wenn man eine Waffe auf den Feind richtet, wird man wie er. Jesus wusste das. Und Gandhi ebenfalls.«
    »Selbst wenn der eigene Sohn bei einem steht? Und verzweifelt Schutz braucht? Selbst dann soll man die andere Wange hinhalten und sich opfern?«
    »Du sollst nicht töten«, sagte Rachel fest. »Hätte mein Großvater diesen SS-Mann getötet, wären er und mein Vater vielleicht noch in der gleichen Nacht hingerichtet worden. Wir können die Zukunft nicht vorhersagen, David. Das ist es, was mich gestern so unglaublich erschüttert hat. Ich habe deinen Revolver aufgehoben und auf ein anderes menschliches Wesen geschossen. Was habe ich wirklich getan, als ich das gemacht habe?«
    »Du hast mir das Leben gerettet. Und dein eigenes ebenfalls.«
    »Für den Augenblick.«
    Ich drückte ihre Hand. »Wir sind am Leben, Rachel! Und ich glaube, dass ich noch etwas sehr Wichtiges zu tun habe, bevor ich sterbe.«
    »Ich weiß.«
    Ein männlicher Flugbegleiter erschien im Gang neben uns. Ich wollte ihn nicht ansehen, deswegen bedeutete ich Rachel, mit ihm zu sprechen.
    »Ja?«, fragte Rachel verschlafen.
    »Möchten Sie heute Nacht etwas essen?«
    Sie sah mich fragend an, und ich nickte. »Ja«, sagte sie. »Danke sehr.«
    Der Flugbegleiter sah mich flüchtig an, dann ging er weiter.
    Rachel hielt den Atem an. »Was glaubst du?«, flüsterte sie nervös.
    »Ich weiß nicht. Es kommt mir schon ein wenig eigenartig vor, aber vielleicht wollte er sich nur überzeugen, ob wir während des

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