Geraubte Erinnerung
spüre noch ein gewisses Verlangen, allerdings nicht mehr so stark wie vorher. Die Tatsache, dass wir auf dem Weg dorthin sind, scheint den Druck ein wenig von mir genommen zu haben.«
»Wenn du von der Kreuzigung träumst, solltest du keine Angst haben. An einem Traum ist noch kein Mensch gestorben.«
Ich war mir nicht so sicher. »Reden wir mal für einen Augenblick von dir. Du sagst, du glaubst an Gott. Was genau glaubst du?«
»Ich wüsste nicht, in welchem Zusammenhang deine Frage mit dem steht, was wir tun.«
»Ich denke, wir sitzen beide aus einem ganz bestimmten Grund in diesem Flugzeug. Und ich denke, es spielt doch eine Rolle, was du glaubst.«
Auf Rachels Gesicht war plötzlich ein Ausdruck von unbeschreiblicher Traurigkeit. »Ich bin erst sehr spät zu Gott gekommen. Als Kind wurde ich nie zu einer Synagoge oder Kirche mitgenommen.«
»Warum nicht?«
»Mein Vater hat Gott den Rücken zugewandt, als er sieben Jahre alt war.«
»Wieso in diesem jungen Alter?«
»Er wurde in einem Konzentrationslager sieben.«
Irgendetwas in mir wurde kalt.
Rachels Blick schweifte in die Ferne, als würde sie Jahre in die Vergangenheit blicken. »Mein Vater hat mit angesehen, wie sein Vater ermordet wurde. Es war kein normaler Vorgang, nicht einmal nach den Standards dieses Lagers. Die Alliierten waren auf dem Vormarsch, und die SS begann die Gefangenen zu eliminieren. Einer der SS-Schergen erfand ein Spiel. Er tötete einen Gefangenen pro Tag, und er versuchte, die verhungernden Gefangenen dazu zu bringen, dass sie sich gegenseitig umbrachten, indem er ihnen versprach, sie dafür am Leben zu lassen. Mein Großvater hat sich geweigert. Er war in Berlin Chirurg gewesen. Er kannte Freud, und er stand mit Jung in Briefkontakt.«
Ich begriff, weshalb Rachel diesen Beruf gewählt hatte.
»Der SS-Mann prügelte meinen Großvater vor den Augen seines Sohnes – meines Vaters – zu Tode. Mein Vater kam zu demSchluss, dass ein Gott, der solche Schandtaten erlaubte, Verwünschungen verdient hätte und keine Gebete.«
Ich wollte etwas sagen, doch welche Worte hätten Rachel trösten können?
»Er war einer der wenigen Glücklichen, die nach dem Krieg nach Amerika auswandern durften. Er wurde von entfernten Verwandten in Brooklyn aufgenommen.« Rachel lächelte traurig. »Onkel Milton war Schlosser. Er war entrüstet über die Weigerung meines Vaters, zu Gott zu beten, doch Onkel Milton wusste auch, dass mein Vater viele schreckliche Dinge durchgemacht hatte. Als mein Vater volljährig wurde, änderte er seinen Namen in White, zog nach Queens und brach den Kontakt zu unseren Verwandten ab, obwohl er ihnen regelmäßig Geld schickte. Er heiratete eine Nichtjüdin, die nichts für Religion übrig hatte, und sie zogen mich in einem weltlichen Haushalt auf.«
Ich lauschte voller Staunen. Man sah ein Gesicht auf einer amerikanischen Straße oder in einem Büro, und man hatte nicht die geringste Ahnung, welch tragisches Schicksal sich dahinter verbarg.
»Ich fühlte mich deswegen immer als Außenseiterin. Alle meine Freundinnen gingen in die Kirche oder in die Synagoge. Ich wurde neugierig. Als ich siebzehn war, besuchte ich meinen Onkel Milton. Er erzählte mir alles. Danach … nahm ich meine Herkunft und mein Erbe an.«
Plötzlich ergaben viele kleine Geheimnisse um Rachels Persönlichkeit einen Sinn. Ihre nüchtern-ernste Kleidung, ihre professionelle Distanz, ihre Abscheu vor jeder Form von Gewalt …
»Die Sache ist die«, fuhr sie fort. »Ich glaube, ich wurde mehr aus politischer und emotionaler Identifikation heraus Jüdin als aus dem Wunsch, Gottes Willen zu gehorchen.«
»Daran ist doch nichts verkehrt.«
»Selbstverständlich ist es das. Wenn du mich fragst, was ich wirklich über Gott denke, hat meine Antwort nichts mit der Tora oder dem Talmud zu tun. Sie hat mehr damit zu tun, was ich in meinem eigenen Leben gesehen habe.«
»Und was denkst du wirklich?«
Sie verschränkte die Hände im Schoß. »Ich glaube, dass Erschaffen bedeutet, etwas zu machen, was es vorher noch nicht gegeben hat. Wenn Gott vollkommen ist, besteht für ihn die einzige Möglichkeit, etwas zu erschaffen, darin, etwas zu erschaffen, das sich von ihm unterscheidet. Also ist seine Schöpfung unvollkommen. Wäre sie vollkommen, wäre sie Gott.«
»Ja.«
»Ich glaube, dass wir Menschen unseren eigenen Willen haben müssen, um uns von Gott zu unterscheiden. Die freie Wahl, verstehst du? Und solange schlechte Entscheidungen nicht in
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