Geraubte Erinnerung
Kommunikationsverbindung nach drinnen oder draußen. Sämtliche Kommunikation fand aus den anderen Gebäuden heraus statt. Das Prototypgebäude war konstruiert wie ein Gefängnis für Harry Houdini – einen digitalisierten Houdini, der durch Drähte oder Funkstrahlen entkommen konnte. Falls der Trinity-Prototyp je voll funktionsfähig wurde, wollte niemand – nicht einmal Peter Godin –, dass er mit dem Internet verbunden war.
Ravi hatte das Hospital an diesem Tag gemieden. Godin starb seit Wochen Stück für Stück, doch vor zwei Tagen hatte er endgültig angefangen, ins Nirwana überzugleiten. Ravi war überzeugt, dass Fieldings Tod dafür verantwortlich war, eine skrupellose Notwendigkeit, die den alten Mann härter als erwartet getroffen hatte. Selbstverständlich hatte Fieldings Tod ihnen den Kristall verschafft, daher waren Zweifel wegen der Rechtmäßigkeit seiner Eliminierung nicht angebracht.
Innerhalb weniger Stunden, nachdem sie den Kristall in ihren Besitz gebracht hatten, hatten sie allen Boden gutgemacht, der durch Fieldings Sabotage verloren gegangen war, und nachdem sie die unabhängigen Lösungsansätze des genialen Physikers entdeckt hatten, waren sie von einer Sekunde auf die andere in Spuckweite zu einem funktionierenden Prototypen gewesen. Die Euphorie über diesen Durchbruch war stark gedämpft worden durch die Probleme mit Tennant und seiner Psychiaterin. Godin konnte den Stress kaum ertragen, den diese Geschichte nach sich zog, doch letztendlich war es der Krebs, der ihn tötete, genau wie er jeden umbrachte, der an Godins Form dieser bösartigen Krankheit litt.
Ravi parkte den ATV vor dem Hospitalhangar und betrat das Gebäude. Der Hangar war durch Trennwände in »Räume« unterteilt. Keiner der Räume besaß eine Decke, nicht einmal dieToiletten, und so wehten mit ärgerlicher Regelmäßigkeit faulige Gerüche durch das Gebäude. Peter Godin wurde davon nicht beeinträchtigt. Er lag in einer luftdichten Kammer mit Überdruck, damit keine infektiösen Stoffe zu ihm vordringen konnten. Das kleine Plastikabteil, die »Blase«, wie die Techniker sie nannten, wurde mit gefilterter Luft und sterilem Wasser versorgt und stand mitten im Hangar wie ein Inkubator.
Um Ravi und den Pflegern die Zeit zu ersparen, die sie mit Schutzanzügen verschwendeten, hatte man in der Nähe des Zugangs zur Blase einen UV-Dekontaminator errichtet. Um sich zu sterilisieren, musste Ravi nichts weiter tun, als sich die Hände waschen, eine Maske anlegen und lange genug in der Strahlenschleuse stehen, bis seine Haut und Kleidung von allen gefährlichen Organismen befreit war. Der gesamte Prozess dauerte nicht länger als zwei Minuten, doch in letzter Zeit gingen ihm selbst diese zwei Minuten an die Nerven.
Trotzdem konnte er Godin keinen Vorwurf machen. Steroide und Chemotherapie hatten das Immunsystem des alten Mannes völlig unterdrückt, und Godin wollte, was jeder Mensch seit Anbeginn der Zeit gewollt hatte: den Tod besiegen.
Endlich erloschen die summenden UV-Röhren. Ravi betätigte einen Knopf, der die Plexiglasschleuse zu Godins Blase öffnete, und trat ein. Peter Godin lag bewusstlos auf einem Krankenhausbett, umgeben von Monitoren und Wiederbelebungsapparaturen. In seinem Arm steckte eine intravenöse Nadel, und überall an seinem Leib klebten Sensoren, deren dünne Drähte zu den Monitoren liefen. Godins charakteristischer Schädel hatte kaum mehr Farbe als die weißen Laken des Bettes, in dem er lag.
Zwei Krankenpfleger bewachten den Patienten und achteten unaufhörlich auf die geringsten Veränderungen seines Zustands. Ravi nickte ihnen zu, bevor er die Krankenkarte aus der Tasche am Fußende des Bettes nahm und sie kurz überflog. Hirnstamm-Gliom, diffus und inoperabel. Ravi hatte die Diagnose sechs Monate zuvor gestellt, als er den Super-MRI-Scan von Godins Gehirn zum ersten Mal gesehen hatte. Es war unheimlich, zu sehen,wie ein Tumor in einem der begnadetsten Gehirne der Menschheit heranwuchs. Als Godin Ravi darum gebeten hatte, seinen Krebs geheim zu halten, hatte Ravi nicht einen Augenblick gezögert. Godins Gesundheitszustand öffentlich zu machen hätte seine Chancen möglicherweise zunichte gemacht, Anteil zu haben am größten wissenschaftlichen Durchbruch in der Geschichte der Menschheit. Selbstverständlich hatte Ravi einen Preis für sein Schweigen verlangt, das war nur gerechtfertigt. Peter Godin war ein reicher Mann und Ravi Nara im Gegensatz dazu relativ arm. Dieses Ungleichgewicht
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