Geraubte Erinnerung
Station …«
Schnell gingen die Worte unseres Führers in ein monotones Geleier über, dem ich nicht mehr folgen konnte. Schweiß brach mir aus allen Poren, und mir war plötzlich eisig kalt.
Während unser Wagen durch die schmalen Straßen jagte, sah ich Steinmauern, Jalousien, Marktstände voller Andenken und Touristen in den Trachten Hunderter verschiedener Nationen.
Ibrahim kurbelte das Fenster herunter und verfluchte jemanden, der ihn behinderte, und der Duft von Jasmin wehte in das Wageninnere. Als der Duft in meine Nüstern stieg, verspürte ich eine plötzliche Euphorie, und dann wurde alles weiß.
30
D avid? Wach auf! Wir sind da!«
Jemand schüttelte mich an der Schulter. Ich blinzelte und richtete mich auf. Rachel stand über mich gebeugt in der hinteren Tür des Wagens.
»Wo sind wir?«, fragte ich.
»In der Via Dolorosa. Das musst du gesehen haben! Es ist ein lebendiges surrealistisches Gemälde! Kannst du aussteigen?«
Ich riss mich zusammen und stieg aus. Dort stand ich und starrte voller Staunen auf die Trauben von Touristen. Vier von ihnen trugen große Holzkreuze auf den Schultern, zwei in weißen Gewändern, die beiden anderen in gewöhnlicher Straßenkleidung. Die Kreuze hatten am Fußende Räder, um die Last zu erleichtern, was die ganze Angelegenheit in meinen Augen nahezu sinnlos machte.
»Erkennst du etwas aus deinen Träumen wieder?«, fragte Rachel.
»Nein. Komm, lass uns gehen.«
Ibrahim führte uns durch eine kopfsteingepflasterte Gasse und schob sich mit geübter Leichtigkeit durch die Touristenmassen. Ich hatte erwartet, Ehrfurcht und Stille anzutreffen, doch es herrschte eine Atmosphäre wie auf einem Jahrmarkt. Ein babylonisches Stimmengewirr hallte von den Wänden wider: Deutsch, Französisch, Englisch, Russisch, Hebräisch, Arabisch, Japanisch, Italienisch und noch ein Dutzend anderer Sprachen, die ich nie gehört hatte. Ein Mann mit einem Bürstenschnitt und Südstaatenakzent predigte vor einer Gruppe japanischer PilgerFeuer und Schwefel. Ibrahim redete ununterbrochen; die Jahre als Fremdenführer hatten seine Gesten und Floskeln zu einem emotionslosen Singsang werden lassen.
»Warten Sie!«, sagte Rachel, und er blieb stehen. Sie drehte sich zu mir um. »Was möchtest du sehen, David?«
»Wo sind wir?«
Ibrahim lächelte. »Sir, dort oben die blaue Tür ist Omaria-Schule. Ort von erste Station des Kreuzweges, wo Jesus zum Tod verurteilt.«
»Möchtest du die Stelle sehen?«, fragte Rachel.
»Nein. Wo ist die zweite Station?«
Ibrahim deutete die Gasse entlang zu einem aus Ziegeln gemauerten Halbkreis mitten im Weg. »Dort Jesus angefangen Kreuz tragen. Die Straße entlang kommen Geißelkapelle, wo römische Soldaten Jesus ausgepeitscht und Dornenkrone aufgesetzt und ›Heil, König der Juden!‹ gerufen. Dann Pilatus ihn vor Menge stellen und rufen: ›Ecce homo! Sehen diesen Mann!‹«
Ibrahim hielt seinen Vortrag im aufgeregten Tonfall eines Mannes, der in einem Altenheim die Nummern von Tombolalosen vorliest.
»Weiter«, sagte ich. »Zur Kirche.«
Unser Führer setzte seinen Weg die Straße entlang fort. Wir passierten eine schwarze Tür in einem weißen Steinbogen, und Ibrahim erzählte irgendetwas vom ersten Kniefall Jesu Christi. Ich starrte die Tür an, doch ich spürte nichts. Vielleicht lag das, was ich suchte, vergraben in diesem Labyrinth aus Straßen und Läden und Vordächern. Jerusalem war wahrscheinlich wie Kairo, immer wieder neu auf den eigenen Ruinen errichtet, ein Ort, an dem jeder Neubau verlorene Kapitel menschlicher Geschichte ans Tageslicht brachte.
Ibrahim führte uns zu einem weiteren Halbkreis aus Ziegeln und begann erneut zu rezitieren. »Das fünfte Station von Kreuzweg, wo römische Soldaten Simon von Kyrene gezwungen, Jesus helfen bei Tragen von Kreuz.«
Rachel sah mich fragend an, dann sagte sie: »Weiter.«
Ein lachender Junge kam vorbei und bot Dornenkronen zum Kauf an. Er nahm mein Starren als Zeichen von Interesse, doch Ibrahim verscheuchte ihn. Als ich dem Knaben mit seinem Bündel aus Dornenkränzen hinterher sah, wurde mir auf einmal schwarz vor den Augen, und meine Knie wurden weich. Rachel schob ihren Arm unter meinem hindurch, und gemeinsam stolperten wir hinter Ibrahim her.
Die nächsten Stationen nahm ich nur verschwommen wahr, während sich die Worte des Palästinensers zu einer Flut merkwürdiger Bilder verdichteten: Hier hat Veronika Jesus das blutige Gesicht abgewischt, und bei dieser Gelegenheit wurde sein
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