Geraubte Erinnerung
Hochspannungskabel und als würde die statische Elektrizität jedes einzelne Haar meines Körpers zu Berge stehen lassen.
»Was ist?«, fragte Rachel. »David, hast du etwas entdeckt?«
»Irgendetwas in mir vibriert.«
»Dieses Gefühl hattest du schon häufiger. Das ist das klassische Vorzeichen für eine hypnagogische Halluzination, David.«
»Nein … es ist anders.«
»Ibrahim?«, fragte Rachel.
»Ja, Ma’am?«
»Wir kehren zum Wagen zurück.«
»Ja«, sagte unser Führer erleichtert.
Ich löste mich von ihnen. Zu meiner Rechten zeigte ein Wandgemälde Jesus auf dem Kreuz liegend, das seinerseits flach am Boden lag. Einige Menschen vor dem Gemälde traten zur Seiteund gaben den Blick auf einen kleinen Schrein aus gehämmerten Silberpaneelen frei. Als ich mich dem Wandgemälde näherte, durchzuckte mich ein heißer Schmerz aus der linken Hand. Im ersten Augenblick glaubte ich, einen Herzanfall zu erleiden. Dann schoss der Schmerz auch meinen rechten Arm hinauf. Ich ballte beide Hände zu Fäusten, doch es nutzte nichts. Ich drehte mich zu Ibrahim um.
»Was ist das hier für eine Stelle?«
»Die elfte Station des Kreuzwegs, Sir. Wo Jesus an das Kreuz genagelt wurde.«
Ich stöhnte auf.
»Wir müssen ihn hier rausschaffen«, sagte Rachel zu Ibrahim. »Können Sie Hilfe herbeirufen?«
»Er geht weiter«, antwortete Ibrahim. »Gehen wir nach draußen.«
»Ich glaube nicht, dass er mitkommen wird.«
Einige Leute im Raum starrten mich an, als wäre ich verrückt.
»Ich kann die Soldaten rufen«, sagte Ibrahim leise. »Aber das würde ich eigentlich lieber nicht tun.«
»Nein«, antwortete Rachel. »Ich meine ja, das ist nicht nötig.«
Eine Gruppe von Pilgern entfernte sich von der Jesus-Skulptur und gab den Blick frei auf einen wunderschön verzierten, kunstvollen Altar. Ich trat vor, die Augen unverwandt auf eine silbern gekleidete Madonna gerichtet, die unter dem Kreuz stand. Der Altar vor ihr schien auf einem großen Glaskasten zu stehen, und unter dem Glas bemerkte ich graues Felsgestein.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Golgatha«, antwortete Ibrahim. »Die Schädelstätte. Das ist der Berg, die Stelle, wo der Fels zersprungen ist, als das Blut Jesu vom Kreuz tropfte. Danach kam das Erdbeben.«
Blendend weißes Licht fraß sich durch die Szene vor meinen Augen. Ich sah den Berg, wie er ausgesehen hatte, bevor die Kirche hier errichtet worden war, ein kahler, felsiger Hügel nebeneinem von Gräbern übersäten Berg. Drei Kreuze standen auf dem Hügel, doch an keinem hing ein Mensch. Der Himmel verdunkelte sich und wurde schwarz, und ich fiel auf die Knie.
Ich starrte auf eine silberne Scheibe mit einem Loch in der Mitte. Die Scheibe lag auf dem Marmorsockel des Altars, einen Viertel Meter über dem Boden. Ich streckte die zitternde Rechte nach der Scheibe aus und berührte sie mit der Handfläche.
Der Schmerz in meinem Handgelenk ließ auf der Stelle nach.
»Das ist die Stelle«, sagte ich. »Das ist der Ort, an dem Jesus die Erde verlassen hat.«
»Das stimmt«, sagte Ibrahim. »Die Scheibe markiert die Stelle, wo das Kreuz im Boden gestanden hat. Rechts und links davon sind zwei schwarze Scheiben, wo die Kreuze der Diebe standen, der eine gut, der andere böse. Nach seinem Tod wurde Jesus zum Grab von Joseph von Aramathäa getragen, wo er drei Tage später von den Toten auferstand.«
»Nein«, sagte ich.
Ibrahim erbleichte. »Sir, Sie dürfen so etwas nicht sagen, nicht hier!«
»Sprich leise«, mahnte Rachel flehend.
»Wozu dient das Loch in der Scheibe?«, fragte ich, während meine Hände unablässig das kühlende Silber streichelten.
»Sie können den Finger hindurchstecken und Golgatha berühren. Den Felsen des Kalvarienbergs.«
Ich schloss die Augen und steckte zwei Finger durch das Loch. Meine Fingerspitzen berührten nackten Fels.
»Hast du das geträumt?«, fragte Rachel.
Ich konnte nicht sprechen. Irgendetwas floss aus dem lebendigen Fels in mich. Rachels Stimme verstummte und kehrte nicht zurück. Ich hatte das Gefühl, als würden meine Knochen vibrieren, als würden sie im Einklang mit irgendetwas in der Erde schwingen. Zuerst war es ein Gefühl wie Freude, doch dann wurde es intensiver, und ich begann zuerst zu zittern und mich dann zu schütteln, als hätte ich spastische Anfälle.
Es ist ein Anfall, sagte eine Stimme in meinem Kopf. MeineArztstimme. Ein klonisch-tonischer Anfall. Durch den dichter werdenden Nebel meines schwindenden Bewusstseins hindurch hörte
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