Geraubte Erinnerung
mir wirklich helfen wollen, dann hören Sie zu, was ich Ihnen zu erzählen habe. Anschließend gehen Sie nach Hause und reden mit niemandem darüber.«
»Und wenn Ihnen etwas passiert?«
»Dann rufen Sie CNN und die New York Times an und erzählen denen alles, was Sie wissen. Je früher, desto geringer ist die Gefahr, in die Sie geraten.«
»Warum tun Sie es nicht selbst? Noch heute Nacht?«
»Weil ich nicht sicher sein kann, ob ich mich nicht irre. Weil der Präsident versuchen könnte, mich zu erreichen, jetzt, in diesem Augenblick, wo wir miteinander sprechen. Und weil es eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit ist, so albern sich das auch anhören mag.«
Mit Lu Lis leise wimmerndem Hund im linken Arm steckte ich meinen Revolver wieder in die Tasche und zog Rachel mit mir. Vierzig Meter voraus herrschte undurchdringliche Dunkelheit. Die Bäume wichen nach und nach zurück; dann erhob sich eine Mauer. Als meine Augen sich an die tiefere Finsternis gewöhnt hatten, entdeckte ich die Tür, die ich schon zweimal benutzt hatte. Ich öffnete sie mit der freien Hand und ließ Rachel hindurch. Wir kamen in einer vom Mondlicht beschienen Arena mit Rängen aus steinernen Bänken heraus.
»Mein Gott«, sagte Rachel.
Das Theater sah aus, als wäre es auf magische Weise aus dem antiken Griechenland nach North Carolina geschafft worden. Zu unserer Rechten befand sich die auf einem Podium ruhende Bühne, zur Linken verlief eine Steintreppe bis zu den obersten Sitzen ganz weit hinten. Nicht weit darüber verlief die Country Club Road. Der Ausblick von der Straße war nahezu vollständig von Nadel- und Harthölzern versperrt, doch ich bemerkte die Lichtkegel von Scheinwerfern, die hoch über uns durch die Nacht zogen.
Ich nahm Rachels Hand, trat auf den gepflasterten Weg hinaus und führte sie zum Rand der Bühne. Dort band ich Mayas Leine um einen niedrigen Lampenpfahl. Während der Hund nach einer unsichtbaren Duftspur schnüffelte, stellte ich das Diktiergerät auf die Kante der Bühne und drückte den Aufnahmeknopf. »Ich bin Dr. David Tennant«, sagte ich. »Ich spreche zu Dr. Rachel Weiss von der Duke University Medical School.«
Die Wiedergabe lieferte ein verrauschtes Faksimile meiner Worte. Ich blickte auf die Armbanduhr. »Wir haben weniger als zehn Minuten für das hier.«
Rachel zuckte die Schultern. Ihre Augen leuchteten vor Neugier.
»Während der vergangenen beiden Jahre«, begann ich, »habe ich an einem speziellen Projekt für die NSA mitgearbeitet. Es ist unter dem Namen Project Trinity bekannt, und es befindet sich in einem Gebäude im Triangle-Technologiepark, zehn Meilen von hier entfernt. Trinity ist ein gewaltiges, von der Regierung finanziertes Projekt zur Konstruktion eines Supercomputers, der zu künstlicher Intelligenz imstande ist. Eines Computers, der denken kann.«
Sie sah wenig beeindruckt aus. »Haben wir denn nicht längst Computer, die dazu imstande sind?«
Diese allgemein verbreitete falsche Annahme aus ihrem Mund überraschte mich irgendwie; dann aber erinnerte ich mich, dass ich es selbst nicht viel besser gewusst hatte, bevor ich beiProject Trinity gelandet war. Seit fünfzig Jahren erschufen Science-Fiction-Schriftsteller und Filmemacher Porträts gigantischer »Elektronengehirne«, die die Weltherrschaft an sich rissen. HAL, der sprechende Computer aus 2001 – Odyssee im Weltraum, war 1968 ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten und seither fest darin verankert. In den darauf folgenden fünfunddreißig Jahren hatten wir eine derartige Revolution in digitaler Technik erlebt, dass der Durchschnittsbürger überzeugt war, ein »denkender Computer« sei nur einen Katzensprung von der Wirklichkeit entfernt, falls wir nicht sogar bereits imstande waren, ein solches Gerät zu bauen. Doch die Realität sah ganz anders aus. Ich hatte keine Zeit, Rachel in die Komplexität neuronaler Netzwerke oder starker KI einzuweihen; sie benötigte eine einfache Einführung in Trinity und die dazugehörigen Fakten.
»Haben Sie schon mal den Namen Alan Turing gehört?«, fragte ich sie. »Er hat im Zweiten Weltkrieg den Enigma-Kode der Deutschen entschlüsselt.«
»Turing?« Rachel sah mich geistesabwesend an. »Ich glaube, ich habe schon mal was von einem Turing-Test gehört.«
»Das ist der klassische Test auf künstliche Intelligenz. Turing hat gesagt, maschinelle Intelligenz wäre dann erreicht, wenn ein menschliches Wesen sich auf einer Seite einer Trennwand an eine Tastatur setzen,
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