Geraubte Erinnerung
beschäftigen, genau wie mit dem Rest. Für diejenigen, die eine anthropomorphe Ausdrucksweise vorziehen: Wir werden uns mit Gott befassen. Doch Gott, das wage ich zu prophezeien, wird sich genauso wenig als störend erweisen wie jedes andere verkümmerte Element unseres Gehirns. Weil die Vollendung Trinitys diesen evolutionären Mechanismus überflüssig macht. Unsere Arbeit wird die Herrschaft des Todes über die Menschheit beenden. Sicher wird niemand widersprechen, wenn ich sage, dass es kein edleres Ziel geben kann als dieses.«
Godin legte die verkrümmten Hände auf den Tisch. »Doch für heute … für heute trauern wir um einen Mann, der den Mut hatte, für seine Überzeugungen zu stehen. Während wir uns – aus grimmiger Notwendigkeit – auf die militärischen und geheimdienstlichen Möglichkeiten eines funktionierenden Trinity-Prototypen konzentriert haben, blickte Andrew Fielding nach vorn auf jenen Tag, an dem er dem Computer die ältesten Fragen der Menschheit stellen konnte. ›Wie hat das Leben angefangen? Warum sind wir hier? Wie wird das Universum enden?‹ Trotz seiner dreiundsechzig Jahre besaß Andrew Fielding dieBegeisterungsfähigkeit eines Kindes, und er schämte sich ihrer nicht. Das war auch nicht nötig.« Godin nickte. »Ich für meinen Teil werde Andrew Fielding vermissen.«
Mein Gesicht fühlte sich heiß an. Ich hatte mit den Krokodilstränen von John Skow gerechnet und damit, dass wir uns anschließend mit aller Vehemenz wieder auf die Arbeit stürzen würden. Doch Peter Godin besaß zu viel Klasse. Seine Worte bewiesen mir, dass er seinen Gegenspieler sehr genau gekannt hatte.
»Nachdem wir die Ursache für unsere neurologischen Symptome gefunden haben«, schloss Godin, »werden wir das Projekt fortsetzen. Falls wir einen neuen Quantenphysiker brauchen, werden wir jemanden einstellen. Wir werden auf keinen Fall weiter voranpreschen, ohne um die Gefahren zu wissen. Fielding hat mich gelehrt, wie wichtig es ist, mit Umsicht zu Werke zu gehen.«
Vorsichtig massierte Godin mit der linken Hand die Finger der rechten. »Wir alle haben einen ernsten Schock erlitten. Ich möchte, dass wir alle uns drei volle Tage der Erholung gönnen, angefangen heute Mittag nach der Mittagspause. Wir werden uns am Dienstagmorgen in diesem Raum wieder treffen. Während der Erholungsphase werden sämtliche Sicherheitsmaßnahmen aufrechterhalten, die für die Freizeit gelten.«
Das auf Godins Worte einsetzende Schweigen war vollkommen. Der Mann, der sich selbst doppelt so hart antrieb wie jeden anderen, schlug eine Erholungspause vor? Eine solche Urlaubsphase ging so sehr gegen die Natur Godins, dass niemand wusste, was er sagen sollte.
Schließlich räusperte sich Skow. »Nun, ich für meinen Teil kann tatsächlich ein paar Tage bei meiner Familie gebrauchen. Meine Frau steht dicht davor, die Scheidung einzureichen, weil ich so viele Stunden mit dem Projekt verbringe.«
Godin runzelte die Stirn und schloss die Augen.
»Sitzung geschlossen?«, fragte Skow und sah Godin an.
Der alte Mann erhob sich unsicher und ging ohne ein weiteres Wort nach draußen.
»Nun dann«, sagte Skow unnötigerweise.
Ich stand auf und kehrte in mein Büro zurück, die Augen auf Peter Godins Rücken gerichtet. Das Meeting hatte einen Verlauf genommen, mit dem ich niemals gerechnet hätte. Vor mir bog Godin in diesem Augenblick um eine Ecke, blieb dann aber stehen und drehte sich zu mir um. Ich ging auf ihn zu.
»Sie und Fielding standen sich sehr nah«, sagte er. »Nicht wahr?«
»Ich mochte ihn und habe ihn bewundert, ja.«
Godin nickte. »Ich habe vor zwei Nächten Ihr Buch gelesen. Ich muss sagen, Sie sind sehr viel realistischer, als ich gedacht hätte. Ihre Meinung über Schwangerschaftsabbruch, Untersuchungen an fetalem Gewebe, Klonen, den Aufwand für die Pflege in den letzten Jahren des Lebens, Euthanasie – ich war in jedem einzelnen Punkt Ihrer Meinung. Absolut.«
Ich konnte nicht glauben, dass Peter Godin zwei Jahre lang mit mir zusammengearbeitet hatte, ohne einen Blick in das Buch zu werfen, das mich in erster Linie zu Trinity gebracht hatte. Er sah für einen Moment über meine Schulter an mir vorbei; dann blickte er mir wieder in die Augen.
»Während des Meetings eben kam mir ein Gedanke«, sagte er. »Sie kennen die alte Hypothese über die menschliche Geschichte? Wenn man in der Zeit zurückreisen könnte und die Gelegenheit hätte, Hitler zu töten – würden Sie es tun?«
Ich lächelte.
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