Geraubte Erinnerung
ansah. »Sind Sie sicher?«, fragte er. »In Ordnung.«
Er kam um den Schreibtisch herum, und ich wusste plötzlich, dass mein Überlebensinstinkt die nächsten Sekunden diktieren würde, sollte Henry nach seiner Pistole greifen. Ich spannte mich zum Sprung, doch er ging vor mir in die Hocke und klopfte mich ganz normal ab, wobei er mit den Hosenbeinen anfing.
Geli hatte also beschlossen, mich gehen zu lassen. Warum? Weil sie nicht sicher sein kann, ob ich mit dem Präsidenten gesprochen habe.
»Alles in Ordnung, Doktor«, sagte Henry, als er fertig war. »Sie können gehen.« Er klopfte mir auf die Schulter. »Einen Augenblick dacht ich schon, die Bauer … ich meine, die Sicherheitsleute würden von mir verlangen, dass ich Sie festhalte.«
Als ich in Henrys Gesicht sah, bemerkte ich etwas in seinen Augen, das ich zuerst nicht begriff. Doch dann dämmerte es mir. Henry mochte Geli Bauer genauso wenig wie ich. Er hatte richtiggehend Angst vor ihr.
Sobald ich durch die gepanzerte Glastür war, begann mein Handy zu summen. Ich drückte die grüne Taste und hielt das Gerät an mein Ohr.
»Hallo?«
» David! Wo um alles in der Welt haben Sie die ganze Zeit gesteckt?«
»Sagen Sie Ihren Namen nicht!«, zischte ich hastig, als ich Rachels Stimme erkannte.
»Ich versuche seit mehr als einer Stunde, Sie zu erreichen!«
Mobiltelefone waren hinter der Kupferummantelung des Trinity Building vollständig vom Netz abgeschirmt. Kein Gespräch ging hinein, keines nach draußen. »Sagen Sie mir nur, was passiert ist.«
»Waren Sie heute Morgen in meiner Praxis?«
»In Ihrer Praxis? Selbstverständlich nicht! Warum?«
»Weil jemand hier fast alles in Stücke zerrissen hat! Ihre Akte ist verschwunden. Hier herrscht ein heilloses Durcheinander.«
Ich atmete geräuschvoll ein und zwang mich, äußerlich gelassen weiter in Richtung meines Wagens zu laufen. »Ich war nicht mal in der Nähe Ihrer Praxis. Warum sollte ich so etwas tun?«
»Um Ihre Wahnvorstellungen in meinen Augen glaubhafter zu machen! Damit ich das alles für Realität halte.«
Rachels Stimme hörte sich an, als stünde sie dicht vor einem Nervenzusammenbruch. Hatte sie in der vergangenen Nacht denn überhaupt nichts begriffen? »Wir müssen dringend miteinander reden. Aber nicht am Telefon. Sind Sie in Ihrer Praxis?«
»Nein, ich bin auf dem Highway fünfzehn unterwegs.«
Rachel konnte die ganze Zeit auf dem Fünfzehn bleiben; er führte vom Duke Medical Center bis hinunter nach Chapel Hill. »In einem Taxi?«
»Nein. Ich war heute Morgen bei Ihnen und habe meinen Wagen dort abgeholt.«
»Wir treffen uns an der Stelle, wo Sie mich beim Aufzeichnen des Videobands angetroffen haben.«
»Sie meinen …«
»Sie wissen wo. Ich bin auf dem Weg dorthin. Legen Sie jetzt auf.«
Sie unterbrach die Verbindung.
Es kostete mich all meine Nerven, um die letzten Schritte zu meinem Wagen nicht zu rennen.
12
R achels weißer Saab parkte draußen vor dem Haus. Rachel selbst saß auf den Stufen vor der Tür, das Kinn in die Hände gestützt wie ein Collegegirl, das auf den Unterrichtsbeginn wartet. Statt ihrer üblichen Seidenbluse und dem Rock trug sie eine Bluejeans und ein weißes baumwollenes Oxfordhemd. Ich tippte auf die Hupe. Sie blickte auf, ohne zu lächeln. Ich winkte einmal, lenkte den Wagen in die Garage und ging durch das Haus, um ihr die Tür zu öffnen.
»Tut mir Leid, dass Sie vor mir da waren und warten mussten«, sagte ich, während ich die Straße nach unbekannten Fahrzeugen absuchte.
Ihre Augen waren rot vom Weinen. Sie ging ins Wohnzimmer, doch sie setzte sich nicht. Stattdessen schritt sie nervös zwischen meinen spärlichen Möbeln hin und her.
»Erzählen Sie mir, was passiert ist«, forderte ich sie auf.
Sie hielt lange genug inne, um mich mit wütenden Blicken anzustarren; dann setzte sie ihre unruhige Wanderung fort. »Ich war im Krankenhaus, um nach einem Patienten zu sehen, der vor zwei Tagen einen Selbstmordversuch unternommen hat.«
»Und?«
»Ich habe beschlossen, noch kurz in meiner Praxis vorbeizufahren und Diagnosen zu diktieren. Als ich dort ankam, stellte ich fest, dass jemand in den Räumen gewesen war. Ich meine, es war zwar alles zugesperrt, aber ich konnte es sehen, wissen Sie?«
»Sie haben gesagt, es wäre alles verwüstet worden.«
Sie senkte den Blick. »Genau genommen nicht, nein. Aberviele Dinge waren nicht dort, wo sie hingehören. Ich weiß es genau, weil ich meine Sachen auf eine ganz bestimmte Weise
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