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Geraubte Erinnerung

Geraubte Erinnerung

Titel: Geraubte Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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Mein Gott, David, Sie haben davon geschrieben, Ihrem eigenen Bruder beim Sterben zu helfen!«
    Ich schloss die Augen und sah Bilder meines älteren Bruders vor mir, der nicht imstande war, etwas anderes zu bewegen als die Augenlider. Das war die verheerende Auswirkung der ALS, der amyotrophischen Lateralsklerose. Später vermochte er nicht einmal mehr die Lider zu bewegen. Wir hatten einen Pakt geschlossen. An diesem Punkt würde ich ihm helfen zu beenden, was noch vom Leben übrig war.
    »Das hätte ich fast weggelassen«, gestand ich.
    Sie streckte die Hand aus und fasste mich am Arm. »Aber Sie haben es nicht weggelassen«, sagte sie. »Sie haben das Risiko auf sich genommen, und damit haben Sie zahllosenMenschen geholfen. Menschen, die Sie niemals kennen lernen werden. Doch diese Menschen kennen Sie. Ich kenne Sie. Und ich weiß, dass Sie krank sind. Sie benötigen seit Monaten Hilfe, und konventionelle Therapien haben sich als wirkungslos erwiesen. Es war mir nicht möglich, die Mauern zu durchbrechen, die Sie um sich herum aufgerichtet haben.« Ihr Griff wurde fester, und sie lächelte ermutigend. »Ich glaube Ihnen, dass Sie in irgendein besonderes Projekt verwickelt sind, okay? Aber verraten Sie mir eins. Wenn dieser Trinity-Computer all das ist, was Sie behaupten, warum dann ausgerechnet Sie? Können Sie mir diese Frage beantworten? Sie haben ein großartiges Buch geschrieben, zugegeben. Der Präsident war mit Ihrem Bruder befreundet. Aber das qualifiziert Sie wohl kaum, die Art von Forschung zu beurteilen, von der Sie mir erzählt haben.«
    Sie hatte Recht. Es steckte mehr dahinter. Ich hatte mein Geheimnis nun schon so lange bewahrt, dass es mich überraschend viel Willensstärke kostete, darüber zu sprechen.
    »Mein Vater war Atomphysiker«, sagte ich leise. »Er hat während des Krieges in Los Alamos gearbeitet. Er war der jüngste Physiker, der am Manhattan Project mitgearbeitet hat.«
    Rachels dunkle Augen weiteten sich überrascht. »Sprechen Sie weiter.«
    »Ich habe ein Diplom in theoretischer Physik. Ich war am MIT.«
    »Mein Gott. Ich weiß wirklich überhaupt nichts über Sie.«
    Ich berührte ihre Schulter. »Doch. Sehen Sie, mein Vater war Mitglied jener Gruppe, die gegen die Bombe protestierte. Leo Szilard, Eugene Wigner und wie sie alle hießen. Die Deutschen hatten bereits kapituliert, und die Japaner verfügten nicht über die Ressourcen, eine Atombombe zu bauen. Die Gruppe, zu der mein Vater gehörte, wollte, dass man der japanischen Armee die Bombe lediglich demonstrierte, und nicht, dass sie gegen Zivilisten eingesetzt wurde. Doch ihre Einwände wurden ignoriert, und Hiroshima ist Geschichte.
    Heute leben wir in einer anderen Welt. Nachdem derPräsident erkannt hat, welche Implikationen Trinity nach sich ziehen wird – wir sprechen schließlich davon, die menschliche Intelligenz vom Körper zu befreien –, wusste er, dass er politisch verwundbar werden würde, falls er ohne Rücksicht auf Ethik und Moral weitermachte. Sehen Sie sich den Irrsinn an, der um die Stammzellenforschung oder das Klonen herum ausgebrochen ist. Also verlangte der Präsident, dass jemand das Projekt beaufsichtigt … jemand, der die ethisch-moralischen Grundsätze im Auge behält. Er kannte mein Buch und wusste, dass die Öffentlichkeit darauf vertraut, dass ich die Wahrheit sage, und er hielt mich auch deshalb für geeignet, weil er meinen Bruder kannte. Darüber hinaus hat schon mein Vater beim Manhattan Project auf sein Gewissen gehört und alles getan, um sich Gehör zu verschaffen. Wer also wäre besser geeignet gewesen als ich?«
    Rachel schüttelte den Kopf. »Und warum sind Sie Arzt geworden und nicht Physiker?«
    Sie konnte ihre Psychotherapie nicht beiseite lassen. Vielleicht war sie auch einfach nur eine Frau. »Nach Hiroshima führte mein Vater ein sorgenvolles Leben. Edward Teller war dabei, an der Wasserstoffbombe zu forschen. Oppenheimer war dagegen. Genau wie mein Vater. Dad bat um seine Versetzung, doch General Groves wollte ihn nicht aus der Waffenforschung entlassen. Sie kamen überein, ihm eine mehr technische Arbeit zu überlassen, bei der er weniger mit den eigentlichen Sprengköpfen zu tun hatte. Er kam ins National Lab in Oak Ridge, Tennessee.«
    »Warum hat er nicht einfach ganz aufgehört?«
    »Das hat er irgendwann. Doch es war die Zeit des Kalten Krieges. Damals lastete ein anderer Druck auf den Menschen als heute. Oppenheimer wurde viele Jahre lang schikaniert, weil er gegen die

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