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Geraubte Erinnerung

Geraubte Erinnerung

Titel: Geraubte Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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ankam, fühlte ich mich bereits wie ein Betrunkener, der durch eine unbekannte Stadt taumelt.
    Rachel wartete an der Hintertür. »Das sind die Sachen von gestern Abend«, sagte sie, als sie die Schachtel sah. »Wozu brauchen Sie die?«
    Ich klappte den Deckel auf, damit sie den Revolver sehen konnte.
    Sie wich einen Schritt zurück. »David! Sie machen mir Angst!«
    »Sie müssen weg von hier. Ihnen wird nichts geschehen, bis ich McCaskell meine Geschichte erzählt habe.« Ich stellte die Kiste zu Boden, nahm den Revolver, steckte ihn in meinen Hosenbund und führte Rachel zur Vordertür. »Verbringen Sie den Rest des Tages irgendwo an einem öffentlichen Platz … einem Einkaufszentrum beispielsweise. Fahren Sie nicht nach Hause, bevor Sie von mir gehört haben.«
    Sie wirbelte herum und stemmte sich meinem Schieben entgegen. Ihre Widerspenstigkeit brachte uns Auge in Auge. »Hören Sie auf damit! Sie sind so von Sinnen, dass Sie sich versehentlich selbst erschießen könnten!«
    Ich wollte etwas erwidern, doch meine Worte versanken irgendwo in den dunklen Ecken meines Verstandes. Ich wusste, dass es keine Minute mehr dauern konnte, bis ich das Bewusstsein verlor.
    »Ich kipp gleich aus den Latschen.«
    Sie packte mich am Arm und führte mich in den Flur, während sie nach einem Platz suchte, wo sie mich hinlegenkonnte. Ich deutete auf die Tür meines Gästezimmers. Sie schien zu spüren, dass ich umzukippen drohte, denn sie schob mich hastig durch die Tür und ließ mich mit dem Gesicht vornüber aufs Bett fallen.
    »Haben Sie irgendwo Medikamente?«
    »Sind ausgegangen.«
    Ihre Schritte entfernten sich. Ich hörte, wie sie Schranktüren knallte und Schubladen aufzog. Dann Rachels Stimme im Selbstgespräch. Sie schien wieder näher zu kommen, und es gelang mir, mich herumzuwälzen. Eine dunkle Silhouette stand in der Tür.
    »Der Kaffee ist gleich fertig«, sagte Rachel. »Sind Sie noch wach?«
    »Gerade noch.«
    Sie beobachtete mich, wie jemand bei einem Experiment ein Tier beobachtet. »In Ihrer Küche ist nichts zu essen. Bloß knochentrockenes Salzgebäck. Wann waren Sie das letzte Mal einkaufen?«
    Ich konnte mich nicht erinnern. Die vergangenen Wochen waren eine einzige Abfolge von Stunden gewesen, die ich mit Fielding an Experimenten gearbeitet hatte, von denen ich kaum eins begriffen hatte.
    Rachel setzte sich aufs Bett und legte ihre Finger an meine Halsschlagader. Ihre Fingerspitzen waren kühl.
    »So war ich auch eine ganze Weile«, sagte sie, wobei sie auf ihre Uhr sah. Ihre Lippen bewegten sich leicht, während sie den Puls kontrollierte. »Nachdem ich meinen Sohn verloren hatte. Ich war nicht mehr einkaufen, habe keine Rechnungen mehr bezahlt, habe nicht mehr gebadet. Ich nehme an, Männer brauchen länger, um sich wieder in der Realität zurechtzufinden. Letztendlich benutzte ich diese kleinen Arbeiten, um mich wieder zu einer gewissen Ordnung im Leben zu zwingen. Es hat verhindert, dass ich völlig den Verstand verlor.«
    Ich spürte, wie meine Lippen sich zu einem Grinsen verzogen. Mir gefiel, dass sie sich von ihrer therapeutischenAusbildung nicht daran hindern ließ, Wendungen wie »den Verstand verlieren« zu benutzen. Mir gefiel auch, wie ihre Finger sich auf meiner Haut anfühlten. Ich wollte ihr etwas über diese Berührung sagen. Es erinnerte mich an jemanden, doch ich konnte nicht sagen, an wen …
    »Wann ist Ihr Geburtstag?«, fragte sie alarmiert.
    Ich konnte mich nicht erinnern.
    »David?«
    Eine schwarze Woge rollte über mich hinweg, und ich versank in Dunkelheit.
    Ich gehe über einen Vorstadtbürgersteig und betrachte die perfekten Häuser, die rechts und links in perfekten Reihen stehen. Es ist die Willow Street. Ich wohne in der Willow Street – jedenfalls schlafe ich dort –, doch sie hat wenig gemeinsam mit der Straße, in der ich als Junge gelebt habe. In der Willow Street kenne ich meine Nachbarn kaum, einige von ihnen überhaupt nicht. Die NSA hat mir gesagt, ich solle mich nicht mit Nachbarn anfreunden, und wie sich gezeigt hat, war das gar nicht so schwer. In der Willow Street unternimmt niemand Anstrengungen, seine Nachbarn kennen zu lernen. In Oak Ridge waren die Häuser kleiner, doch ich kannte jeden, der dort wohnte. Meine kleine Nachbarschaft damals war eine Welt für sich gewesen, voll mit Gesichtern, die ich genauso gut kannte wie die meiner eigenen Familie. In der Willow Street bleiben die Kinder mehr im Haus, als dass sie draußen spielen. Die Väter mähen

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