Geraubte Erinnerung
Zündschlüssel aus meinem Rucksack zu holen; dann klemmte ich mich hinter das Lenkrad und startete den Motor. Ich fuhr rückwärts zwischen den Bäumen hindurch bis zum Weg. Zweimal kam ich durchschlammige Stellen und fürchtete jedes Mal, wir könnten stecken bleiben, doch indem ich langsam vorwärts und rückwärts schaukelte, kam ich immer wieder frei. Das SWAT-Team musste inzwischen den Motor gehört haben. Ich trat das Gaspedal durch und jagte über die unbefestigte Piste zurück in Richtung Brushy Mountain State Prison davon.
Ich sah Rachel erst wieder an, als wir eine gute Meile zurückgelegt hatten. Sie lehnte in der Beuge zwischen Sitz und Tür und beobachtete mich, als wäre ich ein gewalttätiger Patient.
»Wie lautet Ihre Geschichte?«, fragte ich sie. »Wie hat sich die andere Seite mit Ihnen in Verbindung gesetzt?«
Sie schwieg.
Als wir die 116 erreichten, bog ich nicht in Richtung Strafanstalt ab, sondern nahm den entgegengesetzten Weg nach Caryville, wo die Straße die I-75 überquerte.
»Sie glauben, ich hätte denen erzählt, wo wir sind?«, fragte Rachel.
Ich nickte.
»Warum sollte ich das tun?«
»Das wissen nur Sie allein.«
»Wenn ich gewollt hätte, dass man Sie findet, hätte ich Sie längst verraten können, nicht erst jetzt.«
Es fing wieder an zu regnen, große dicke Tropfen, die auf der Windschutzscheibe zerplatzten wie Insekten. Ich schaltete die Scheibenwischer ein und fuhr langsamer.
»Vielleicht wollten sie mich nicht fangen, bevor Sie nicht sämtliche Informationen aus mir herausgeholt hatten. Haben Sie vom Wal-Mart aus angerufen?«
Sie sah mich voller Verachtung an. »Als dieser Typ mit der Pistole mich gefragt hat, wo Sie sind, hätte ich ihm sagen können, dass Sie direkt hinter mir stehen.«
»Sie wussten, dass ich mit einem Pfeil auf Ihren Rücken ziele.«
In ihrem Gesicht zeigte sich hilflose Frustration. »Denken Sie doch nach, David! Ich hätte Ihnen gerade eben mit einem Steinden Schädel einschlagen können! Als Sie den Toten auf den Pick-up gewuchtet haben.«
»Ich denke später. Im Augenblick muss ich mich auf meine Flucht konzentrieren.«
Wir fuhren eine Weile schweigend weiter in Richtung des tiefen Einschnitts zwischen Morgan und Anderson County. Vor uns tauchte eine Brücke auf. Trotz des Regens floss nicht viel Wasser durch den Bach am Boden der tiefen Schlucht, die das Wasser aus den Tagebauten weiter oben im Verlauf vieler Jahre in den Untergrund gegraben hatte.
Als wir das erste Drittel der Brücke überquert hatten, lenkte ich den Truck zum Geländer und hielt an.
Ich zog den Zündschlüssel ab, stieg aus und kletterte auf die Pritsche. Der Schlafsack über dem Toten war durchnässt vom Regen. Ich trat ihn zur Seite, lud mir die Leiche auf die Schulter, richtete mich auf und wuchtete sie über das Brückengeländer. Sie krachte durch Äste und Zweige und prallte auf die Felsen tief unten. Der Schlafsack war voller Blut, also warf ich ihn gleich hinterher. Dann stieg ich wieder ein und ließ den Motor an. Ich fuhr nicht schneller als sechzig Meilen auf der gewundenen Straße.
»Ich wusste nicht, dass Sie dazu imstande sind«, sagte Rachel mit ausdrucksloser Stimme. »Ich kann nicht glauben, dass Sie der Mann sind, der ein so bewegendes Buch über Mitleid und Ethik geschrieben hat.«
»Es geht um mein Überleben. Jeder hat es in sich, wenn es um Leben und Tod geht. Auch Sie.«
»Nein«, widersprach Rachel heftig. »Ich könnte nicht töten!«
»Und ob.« Ich sah ihr direkt in die Augen. »Sie waren bisher nur noch nicht in der richtigen Situation, das ist alles.«
»Glauben Sie doch, was Sie wollen. Ich weiß jedenfalls, was ich weiß.«
Die Straße wurde nach und nach gerader. Ich beschleunigte auf siebzig Meilen und schloss Rachel aus meinen Gedanken aus. Ich fühlte mich wieder einmal allein, so allein wie an jenemTag, als Fielding gestorben war. Mir war nicht bewusst gewesen, wie sehr Rachel ein Trost für mich gewesen war. Am meisten an ihrem Verrat machte mir die Einsicht zu schaffen, dass ich für sie niemals mehr als ein Patient gewesen war. Ein kranker, unter Halluzinationen leidender Mann.
Eine Hitzewelle stieg in mir auf und hinterließ eine tiefe Müdigkeit. Ich hoffte, dass es sich nur um einen Postadrenalin-Zusammenbruch handelte, doch das Vibrieren in meinen Backenzähnen erzählte etwas anderes. Nicht mehr lange, und ich würde das Bewusstsein verlieren. Und diesmal konnte ich nicht darauf vertrauen, dass Rachel sich um mich
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