Geraubte Erinnerung
während ich bewusstlos gewesen war, und sie hatten über den Audi, das Ferienhaus beim Nags Head und alles andere Bescheid gewusst.
Was Oak Ridge anging, konnte sie genauso leicht vom Wal-Mart in Asheville aus angerufen haben, wo ich sie bei der Tür postiert hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie noch nichts vom Frozen Head State Park gewusst, doch sie besaß ein Mobiltelefon. Mit ein wenig Mut hatte sie die NSA gestern Abend alarmieren können, als sie aus dem Truck ausgestiegen war, um zu pinkeln. Andererseits hatte ich immer noch das Bild des Mörders vor meinen Augen, der durch den Flur meines Hauses geschlichen war und eine Pistole mit Schalldämpfer auf Rachels Kopf gerichtet hatte.
Sie zögerte, als wir einen tiefen Einschnitt erreichten. Ich trat dicht hinter sie für den Fall, dass sie stürzte oder zu flüchten versuchte. Während wir durch den Einschnitt stiegen, dachte ich darüber nach, wie ich an sie als meine Therapeutin geraten war. Skow hatte sich meinem Wunsch widersetzt, zu einem Psychologen zu gehen, der nicht bei der NSA angestellt war – aber hatte er sich energisch genug widersetzt? Freunde an der UVA hatten mir erzählt, dass Rachel die beste jungianische Analytikerin im ganzen Land wäre. War Geli Bauer mir nachgestiegen und hatte mit jedem gesprochen, mit dem ich mich unterhalten hatte? Hatte sie Rachel noch vor meiner ersten Sitzung instruiert? Was hatte Bauer in der Hand, um Rachel zu kompromittieren? Ein Appell an Rachels Patriotismus? Erpressung? Ich wusste es einfach nicht.
Ich streckte die Hand nach Rachels Rucksack aus und hielt sie fest. Die Schlucht war in ein sanft geneigtes Tal übergegangen. Es war nicht mehr weit bis zur Straße.
»Wir sind gleich bei dem Truck«, sagte ich leise. »Wir biegen hier links ab. Passen Sie auf, dass Sie nicht auf Zweige treten.«
Sie drehte sich um und starrte mich aus immer noch wütenden Augen an. »Sie glauben doch wohl nicht ernsthaft, dass ich …«
Ich gab ihr einen Stoß in den Rücken. »Los, weiter.«
Sie bahnte sich mit überraschender Geschicklichkeit einen Weg zwischen den tropfnassen Bäumen und Sträuchern hindurch. Nach etwa vierzig Metern packte ich sie erneut am Rucksack und suchte das Gelände vor uns ab.
»David, Sie glauben nicht, dass ich Sie verraten habe, oder?«
Ich nickte. »Doch. Ich kenne keine andere Erklärung.«
»Es muss eine geben!«
Ich spähte ins Unterholz auf der Suche nach irgendetwas Ungewöhnlichem. »Vielleicht sind sie von alleine auf Oak Ridge gekommen, aber ganz bestimmt nicht auf den Frozen Head Park. Ich hätte ein Dutzend anderer Stellen in den Bergen hier in der Gegend auswählen können.«
Sie hob hilflos die Hände. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich habe mit niemandem über Sie gesprochen, David.«
»Wie sind Sie in mein Haus gekommen, an jenem ersten Tag?«
»In Ihr Haus? Mit einem Dietrich.«
»Blödsinn.«
»Glauben Sie? Mein Vater war Schlosser in Brooklyn. Ich bin damit groß geworden.«
Ihre Erklärung konnte eine glatte Lüge sein, doch sie klang irgendwie zu absurd wahr. »Was ist ein Chubb?«, fragte ich sie.
»Ein qualitativ sehr hochwertiges, in England hergestelltes Schloss. Ich weiß sogar, was ein Spiralextraktor ist. Sie auch?«
Ich hatte nicht die geringste Ahnung. »Drehen Sie sich um und gehen Sie weiter. Der Truck liegt hundert Meter vor uns.«
Rachel wandte sich um und setzte sich unter den Bäumen hindurch erneut in Bewegung. Sie kam schnell voran. Mit dem Bogen in der Hand musste ich vorsichtiger sein. Die Sehne schien Dornenranken nur so anzuziehen, und der schwere Pfeil, den icheingelegt hatte, verfing sich immer wieder in den Zweigen, die mich mit Wasserschauern duschten.
Plötzlich hörte ich ein Geräusch – Wusch! –, wie von einem großen Bock, der durch den Wald sprang. Dann bemerkte ich zwischen zwei Bäumen hindurch etwas Schwarzes.
»Stehen bleiben!«, brüllte eine männliche Stimme. Rachel hielt inne. Ich konnte sie so eben zwischen zwei Baumstämmen hindurch sehen. Vor ihr stand ein Mann mit schwarzem Nyloncape und einer kugelsicheren Weste darunter. Er hielt eine automatische Pistole und zielte damit auf Rachels Gesicht.
»Wo ist er?«, fragte er sie.
»Wer?«
»Sie wissen ganz genau, wen ich meine. Wo ist der Doktor?«
Langsam hob ich den Bogen und spannte die Sehne.
»Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden«, sagte Rachel. »Ich bin hier draußen, um einen Bericht über den Bestand an einheimischem Rotwild zu
Weitere Kostenlose Bücher