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Geraubte Erinnerung

Geraubte Erinnerung

Titel: Geraubte Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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kümmerte.
    »Was ist los?«, fragte sie und sah mich aufmerksam an. »Sie fahren ständig über die Mittellinie.«
    »Nichts.«
    »Fahren Sie nach rechts! Wir sind auf der falschen Seite!«
    Ich riss das Lenkrad herum und steuerte nach rechts. Vielleicht hatte mich die Anstrengung, die Leiche aus dem Wagen zu schaffen und anschließend über das Geländer zu wuchten, besonders empfänglich für eine Attacke gemacht. Diese hatte jedenfalls nichts Graduelles an sich, sondern überkam mich mit voller Macht. Ich musste den Wagen anhalten.
    »Ziehen Sie rüber!«, rief Rachel erneut.
    Ich bemühte mich verzweifelt, die Augen offen zu halten, und steuerte mit quietschenden Reifen auf einen kleinen Wirtschaftsweg. Es gelang mir, noch knapp hundert Meter weiter zu fahren, bevor nichts mehr ging. Ich legte den Wählhebel auf Parken, zog die Automatik des Toten aus dem Overall und richtete sie auf Rachel.
    »Steigen Sie aus!«
    »Was?«
    »Steigen Sie aus! Und lassen Sie Ihr Mobiltelefon hier liegen. Los jetzt!«
    Sie sah aus dem Fenster, als würde ich von ihr verlangen, von einer Klippe zu springen. »Sie können mich nicht einfach hier rauswerfen!«
    »Ich lasse Sie wieder einsteigen, wenn ich aufgewacht bin. Falls Sie dann noch da sind.«
    »David! Man wird uns finden! Lassen Sie mich weiterfahren!«
    Ich winkte drohend mit der Pistole. »Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe!«
    Sie legte ihr Mobiltelefon auf den Sitz, kletterte aus dem Truck und schloss die Tür von außen. Während sie mich aus ihren dunklen Augen durch das regennasse Glas der Scheibe beobachtete, beugte ich mich hinüber und drückte den Verriegelungsknopf hinunter. Eine Sekunde später versank ich in nachtschwarzer Dunkelheit.
    Ein Stadttor ragte hoch vor mir auf, ein schmuckloser Bogen in einer Mauer aus gelbem Stein. Menschen säumten die Straße. Einige winkten mit Palmzweigen und jubelten, andere weinten. Männer hielten mir einen Esel hin, und ich stieg auf den Rücken des Tieres. Die Symbolik war wichtig. Ich hatte eine Prophezeiung zu erfüllen.
    »Dies ist das Osttor, Herr. Bist du sicher?«
    »Ich bin sicher.«
    Ich ritt auf dem Eselsrücken durch das Tor. Ich hörte die Hörner blasen. Römische Soldaten beobachteten mich aus misstrauischen Augen. Frauen rannten auf die Straße, um mein Gewand oder mein Haar zu berühren. Die Gesichter, denen ich begegnete, waren hungrig, nicht nach Nahrung, sondern nach Hoffnung, auf einen Grund zu leben.
    Die Straße verschwand urplötzlich, und ich befand mich vor einem Säulentempel. Ich saß auf den Stufen und sprach leise zu einer großen Menschenmenge. Sie lauschten mit neugierigen, unsicheren Blicken. Die Worte, die sie aussprachen, waren nicht die Worte, die sie dachten. Die Worte, die sie dachten, waren bei allen die gleichen: Ist er der Eine? Ist es möglich?
    »Ihr wisst das Aussehen der Erde und des Himmels zu interpretieren«, sagte ich zu ihnen. »Warum wisst ihr nicht die Gegenwartzu interpretieren? Ich habe Feuer auf die Erde gebracht, und ich werde es bewachen, bis es ein großer Brand geworden ist.«
    Ich beobachtete ihre Gesichter. Worte bedeuteten verschiedene Dinge für verschiedene Menschen. Sie stürzten sich auf das, was sie hören wollten, und achteten nicht auf den Rest. Jemand fragte mich, woher ich käme. Es war besser, in Rätseln zu antworten.
    »Spalte ein Stück Holz, und du wirst mich finden. Hebe den Stein, und du kannst mich sehen.«
    Ich verließ den Tempel und wanderte durch die Alleen der Stadt. Ich wollte allein sein, doch ich wurde von allen Seiten bedrängt. Priester kamen zu mir und stellten mir Fragen. Blinde sahen mehr als sie.
    »In wessen Namen sprichst du über diese Dinge und tust diese Sachen?«, fragten sie.
    Ich lächelte. »Johannes hat die Menschen getauft. Hat er es im Namen des Himmels getan oder im Namen anderer Menschen?«
    Die Priester antworteten aus Furcht vor dem Pöbel. »Das wissen wir nicht mit Bestimmtheit.«
    »Dann werde ich euch nicht sagen, in wessen Namen ich all diese Dinge sage und tue.«
    Ich ließ sie schwitzend auf der Straße stehen, doch es half nicht. Sie kamen erneut zu mir, auf einem Hügel diesmal, und fragten mich aus. Meine Antworten machten sie wütend.
    »Ich weile nur für begrenzte Zeit unter euch«, sagte ich. »Dann kehre ich dorthin zurück, woher ich gekommen bin. Dorthin, wo ich hingehe, könnt ihr mir nicht folgen. Ihr werdet mich suchen und nicht finden. Ihr seid von dieser Welt. Ich bin es nicht.«
    Sie nannten mich

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