Geraubte Herzen
seine Höhle folgen, und was noch schlimmer war, sie wollte ihm dorthin folgen. Es gefiel ihr, dass er sie am Arm nahm und zu der Treppe geleitete, die zu den Quartieren der Dienstboten führte. Sie brauchte sich nicht um die Moral zu scheren, denn sie hatte ja keine Wahl. Es gefiel ihr, in der Falle zu sitzen - und es ängstigte sie zu Tode. Er ängstigte sie zu Tode - und brachte sie vor Erregung um den Verstand.
Sie fragte sich, ob ihre Zurückhaltung ihn verärgerte. Nicht dass er missmutig gewirkt hätte - sie riskierte einen Blick aus dem Augenwinkel -, aber er wirkte so entschlossen mit seinen zusammengezogenen dunklen Brauen und dem vorgeschobenen Kinn.
Sogar jetzt kam es ihr noch sonderbar vor, einem Mann in sein Schlafzimmer zu folgen. Besonders diesem Mann. Egal, wie weit fort sie von Hobart war, sie blieb immer die Pfarrerstochter.
Es war nicht die kahle Mansarde, die sie erwartet hatte. Und genau genommen war es auch nicht nur ein Schlafzimmer. Griswalds Apartment war schöner als ihres. Viel schöner. Er verfügte im Souterrain des Givens-Hauses über ein Wohnzimmer mit Sofa, Sessel und Essecke. Das Licht war sanft, die braun-goldenen Vorhänge waren schwer genug, die Kälte und die Nacht auszusperren.
»Mein Wohnzimmer«, verkündete er gestikulierend.
Sie drehte sich langsam um die eigene Achse. Auf dem Esstisch stand ein riesiges Bukett aus Lilien und Schleierkraut. Alles wirkte elegant, und trotzdem kletterte ihr eine Gänsehaut den Rücken hinauf. Mein Gott, sie hatte diesen Mann heute Abend zum ersten Mal geküsst, und jetzt hatte er sie doch tatsächlich in sein Apartment gelockt!
Also gut, nicht gelockt. Sie hatten einen durch und durch vernünftigen Grund, hier zu sein. Aber sie konnte
durch die offene Tür sein Schlafzimmer sehen. Das KingSize-Bett schien alles in Beschlag zu nehmen - nicht nur den Raum. Auch ihre Gedanken.
Sie rollte die bestrumpften Zehen ein.
Griswald, sie und das Bett. Sie hörte im Geiste die Stimme ihrer Mutter. Das ist der sichere Weg ins Unglück .
Das Problem war, dass Hopes Körper derart auf Griswald reagierte, während Griswald die Selbstsicherheit in Person war. Das allein war Verlockung genug.
»Sehr hübsch«, sagte sie kurz angebunden.
Der Stil der Einrichtung überraschte sie, steif und an der Grenze zur Pedanterie. Nicht gerade das, was sie von Griswald erwartet hätte.
Er geleitete sie durch die offene Tür. »Mein Schlafzimmer. Diese Tür führt zum Badezimmer, falls Sie sich frisch machen wollen.
»Danke.« In dem geräumigen Schlafzimmer fanden sich außer dem Bett unter anderem eine Fensterbank und ein langer, geschnitzter Tisch, auf dem Physikbücher und ein Spiralblock lagen, daneben eine Lampe, ein Strauß gelber Rosen - und ein ultraschneller Pentium-Computer mit einem flachen Zwanzig-Zoll-Bildschirm und ergonomischer Tastatur. Sie lief durch das Zimmer und schaffte es, nicht auf den flachen, mattschwarzen Computer zu sabbern. Dann wandte sie sich vorwurfsvoll an ihn: »Sie sagten, Sie hätten keine Ahnung von Computern.«
»Habe ich auch nicht.« Es hörte sich überzeugend an. »Der ist für das Personal, falls irgendwer einen Computer braucht.« Er schob ihr das Schulbuch hin. »Aber von Physik habe ich Ahnung.«
Sie ignorierte das ebenso entschieden, wie er alles Technische ignorierte. »Würde der Computer anderswo nicht praktischer stehen?«
»Ja, aber dann wüsste ich nicht, wer wie viel Zeit im Internet verbringt.«
»Oh.« Sie warf ihm einen Blick zu. »Klingt vernünftig.« Nicht sehr, aber hinreichend.
Er war nicht der, für den sie ihn gehalten hatte. Ganz und gar nicht der, für den sie ihn gehalten hatte. Als er nur eine Stimme am Telefon gewesen war, hatte es keine Rolle gespielt, wie er aussah. Ein großer Mann, ein kleiner Mann, ein gut aussehender Mann, ein Troll - nichts hätte sie überraschen können. Aber sie hatte erwartet, dass ein Butler auch wie ein Butler agierte. Diensteifrig und dennoch würdevoll. Zurückhaltend, aber aufs Gefälligsein erpicht. Ein Butler durfte keine Aura aus Autorität, Kompetenz und Arroganz verströmen, die an Kälte grenzte. Aber genau das tat Griswald, und sie … wollte ihn.
Hastig ging sie ins Badezimmer, in dem moosgrüne Handtücher hingen und in einem mit Wasser gefüllten Becken Gardenien trieben. Sie lehnte sich an den Waschtisch und betrachtete ihr Gesicht mit den viel zu rosigen Wangen und den vor Aufregung strahlenden Augen. Sie spritzte sich Wasser ins Gesicht,
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