Gerechte Engel
Kilometer entfernt. »War es denn wirklich nötig, sie herzuholen, Tonia?« Dann fügte sie hinzu: »Was für einen Kerl denn?« Sie schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern. »Was ist eigentlich passiert?«
»O mein Gott!« Antonia kaute sich einen weiteren Fingernagel ab. »Sie hat einen Hirnschaden. Ich wusste es. Wo bleibt bloß dieser verdammte Arzt?«
»Bin schon da.« Die Tür öffnete sich, und ein korpulenter Mann, den Bree nicht kannte, kam herein. Er trug einen weißen Arztkittel und hatte ein Stethoskop um den Hals hängen. Ihm folgte eine schmächtige dunkelhaarige Gestalt, die Bree sofort wiedererkannte. »Dr. Lowry!«
Die Pathologin grinste und winkte Bree zu.
Am Fuß des Bettes nahm der Arzt die Patientenakte an sich und blätterte sie durch. »Sie kennen die Patientin, Dr. Lowry?«
»Bree Beaufort? Klar. Ich hab ihr mal bei einem Fall geholfen.« Sie kam zum Kopfende des Bettes, um Bree in die Augen zu sehen. »Wie fühlen Sie sich?«
»Ganz gut«, erwiderte Bree. »Und wie steht’s bei Ihnen, Megan? Haben Sie schon eine feste Anstellung beim Coroner?«
»Sie meinen, ob ich hier bin, um festzustellen, wie schnell ich Ihre Leiche in die Finger bekomme? Nein. Ich bin dort nach wie vor nur Teilzeitkraft und helfe meinem Bruder in seiner Praxis.«
»Entschuldigung.« Der Arzt, auf dessen Namensschildchen Frederick Ashe Causton stand, schob Megan beiseite. Er schaltete sein Ophthalmoskop ein und leuchtete Bree damit in die Augen.
»Sie machen bemerkenswerte Fortschritte«, versicherte ihr Megan. »Aber bei jemandem, der so in Form ist wie Sie, würde ich auch gar nichts anderes erwarten. Jedenfalls habe ich es noch nie erlebt, dass Verbrennungen so schnell heilen! Ich hatte gedacht, dass Sie mich vielleicht ein paar Gewebeproben nehmen lassen, damit ich sie unten im Labor untersuchen kann.«
»Hoffen Sie darauf, eine große Entdeckung zu machen?«, fragte Causton in sarkastischem Ton. Nachdem er sein Ophthalmoskop abgeschaltet hatte, betastete er mit kühlen trockenen Fingern Brees Hals und fühlte ihr anschließend den Puls.
»Man kann nie wissen«, gab Megan eifrig zurück. »Zellgewebe ist was Erstaunliches.«
Megan Lowry war außergewöhnlich dürr und ziemlich klein und trug eine dicke Schildpattbrille. Bree war sich sicher, dass sie nicht viel älter sein konnte als Antonia. Schon bei ihrer ersten Begegnung – im Zusammenhang mit dem Fall O’Rourke – hatte Bree vermutet, dass Megan eine Art medizinisches Wunderkind war, und die Gereiztheit, mit der Causton sie behandelte, bestätigte das nur. Etablierte Ärzte mochten es nicht, wenn ihnen ehrgeizige junge Neulinge Konkurrenz machten. »Causton fühlt Ihnen den Puls selbst, weil er den Apparaten nicht traut. Sie werden sich wundern, Causton. Diese Frau ist die fitteste Patientin, die ich je gehabt habe.«
»Haben Sie schon mal richtige Athleten behandelt, Lowry? Zum Beispiel die Jungs vom Basketballteam der Duke University. Sie würden einfach nicht glauben, wie schnell bei denen der Heilungsprozess abläuft. Weil sie jung und gesund und hochmotiviert sind. Das spielt nämlich alles eine Rolle.«
Megan schob sich ihre Brille mit dem Zeigefinger nach oben. »Nein, hab ich nicht.«
»Dann würde ich an Ihrer Stelle meine klugen Ideen für mich behalten.« Er musterte Bree. »Aber der Heilungsprozess schreitet bei Ihnen in der Tat bemerkenswert schnell voran.«
Sam ging zur anderen Seite des Bettes und nahm Brees unversehrte Hand in die seine. »Im Aufnahmebericht ist von umfangreichen Verbrennungen an den Beinen, den Unterarmen und am Rücken die Rede. Ihr rechtes Schienbein ist gebrochen, ihr Schlüsselbein angeknackst. Ich möchte Ihre Prognose hören.«
»Außerdem hat sie eine Gehirnerschütterung«, fügte Megan genüsslich hinzu. »Sie haben einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen, der einem Pferd den Garaus gemacht hätte, während Sie nur ein paar Tage weggetreten waren!«
»Außerdem möchte ich die Ursache von jeder einzelnen Verletzung erfahren«, fuhr Hunter fort.
Causton warf einen missbilligenden Blick auf Megan. »Das kann sie Ihnen am besten erzählen.«
»Das sehe ich anders«, erwiderte Hunter. Irgendetwas in seinem Ton veranlasste Causton, sich aufzurichten. »Kooperation ist immer besser, das gilt in der Medizin ebenso wie bei der Arbeit der Polizei. Ich möchte hören, was Sie beide zu sagen haben.«
»Sie waren nicht dabei, als sie in die Aufnahme kam, Causton«, sagte Megan. »Zunächst war es
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