Gerechte Engel
ihrem Herzen als ihren eigentlichen Vater betrachtete. »Hey, Daddy. Theatralisch wie immer, meine Schwester. Dabei geht’s mir bestens. Wie heißt es doch so schön? Bin mit einem blauen Auge davongekommen.«
»Mein liebes Mädchen«, sagte ihre Mutter. »Wir sind hier, um dich nach Hause zu holen.«
Denn noch bis jetzt gab’s keinen Philosophen,
Der mit Geduld das Zahnweh konnt’ ertragen.
William Shakespeare, Viel Lärmen um nichts
»Ich werde keine Minute länger im Bett bleiben!«, rief Bree. Sie war äußerst schlecht gelaunt. Sascha lag zusammengerollt neben ihr auf dem Fußboden. Ab und zu hob er den Kopf und stupste sie gegen die Hand.
Drei Tage lang hatte Bree zäh darum gekämpft, aus dem Krankenhaus entlassen zu werden, und ein noch zäherer Kampf war es gewesen, sich der Absicht ihrer Eltern, sie mit nach Plessey zu nehmen, zu widersetzen. Wenigstens war sie jetzt in ihrem Haus. Ihre Mutter und ihr Vater hatten sich in Antonias Schlafzimmer einquartiert, während Antonia mit der Ausziehcouch im Wohnzimmer vorliebnehmen musste. Bree selbst lag in ihrem eigenen Bett und kam sich so hilflos wie ein bratfertig gemachter Truthahn vor.
Was sie verdross, war nicht so sehr die Tatsache, dass ihre tägliche Routine unterbrochen war.
Sie ärgerte sich, dass die Brosche verschwunden war. Und sie war nicht in der Lage aufzustehen, um danach zu suchen.
Das Fehlen des Schmuckstücks hatte Bree bereits im Krankenhaus entdeckt, als sie den Inhalt ihrer Handtasche und ihrer Aktentasche überprüft hatte. Flurrys Fächermappe war da. Ihr Handy, ihre Kreditkarten sowie ihr Führerschein waren ebenfalls noch vorhanden. Desgleichen das Geld, das sie bei sich gehabt hatte – etwas über hundert Dollar.
Das Verschwinden des Schmuckstücks warf zahlreiche Fragen auf, die Bree beantwortet haben wollte.
»Hörst du, Sascha? Ich steh jetzt auf.« Die Tür ihres Schlafzimmers stand halb offen. Sie hörte, wie ihre Mutter in der Küche herumwerkelte. »Meine Eltern müssen wieder nach Plessey zurückfahren. Und wenn ich sie eigenhändig ins Auto verfrachten muss. Dieses Eingesperrtsein macht mich noch wahnsinnig.«
Bree mochte ihr Zimmer zwar, aber doch nicht so sehr, dass sie sich damit abfinden konnte, eine unbestimmte Anzahl von Tagen darin eingesperrt zu sein. Das Haus gehörte seit der Zeit vor dem Bürgerkrieg ihrer Familie. Davor hatte es die Büroräumlichkeiten eines Lagerhauses beherbergt. Das Zimmer hatte noch die schmalen Holzdielen von damals, auf denen jetzt ein Teppich mit Rosenmuster lag. Dem Bett gegenüber stand eine alte Kommode mit Spiegelaufsatz, sodass Bree sich betrachten konnte. Die Haut an ihrem Arm war zwar noch etwas gerötet, aber nicht mehr so unnatürlich rosa wie zuvor. Ihr Haar hielt sie unter einer Gazehaube verborgen. Vorsichtig schob sie die Finger unter die Haube und betastete ihren Hinterkopf. Man hatte ihr einen Teil des Haars abrasiert. Ihre Wangen glänzten rosig. Causton hatte ihr erklärt, das komme von der Hitze der Flammen, die ihre Arme und Beine versengt hatten.
Die Beine. Ihre Mutter hatte sie mit einer dünnen Decke bedeckt. Bree zog die Decke beiseite. Da die Verbrennungen gut verheilten, hatte man die Schiene am rechten Bein entfernt. Ihr linkes Bein steckte jetzt in einer Art Kunstharzverband. Ihr Knie war leicht angewinkelt.
»Ich stehe jetzt auf, Sascha«, wiederholte sie. »Das ist mein voller Ernst.«
»Was redest du denn da, Liebes?« Ihre Mutter kam gerade mit einem Stapel frisch gewaschener Handtücher ins Zimmer gewuselt. Francesca war klein und rundlich und eine ausgesprochene Frohnatur. Ihr rot-goldenes Haar, das Royal Winston-Beaufort einst in der Mensa der Duke University ins Auge gestochen hatte, frischte sie inzwischen mit einer Tönung ein wenig auf. Doch ihre helle, angenehme Stimme war vom Lauf der Zeiten unberührt geblieben.
»Wie fühlst du dich, Liebling?«
»Bestens.«
»Du siehst auch viel besser aus. Wer hätte gedacht, dass du so erstaunlich aktive Zellen hast!«
Bree lachte. Ihr Gesicht tat nicht mehr so weh wie zuvor. »Du hast mit Megan Lowry gesprochen.«
»Die von der ganzen Angelegenheit rundum entzückt ist. Sie sagt, deine Knochen heilen schneller als die eines kleinen Kindes. An Einzelheiten kann ich mich zwar nicht mehr erinnern, aber offenbar heilen sehr junge Knochen wesentlich schneller als die von Erwachsenen.«
Bree versuchte, ihr Knie zu beugen, was höllisch wehtat. »Nicht schnell genug.«
»Geduld, Liebes.
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