Gerechte Engel
Krankenhausbetten konnte man doch hochstellen, oder? Sie fummelte an der Matratze herum, konnte jedoch keinen Knopf entdecken.
»Wollen Sie sich aufsetzen?«, fragte Ollie freundlich. »Ich denke, das können wir wagen.« Er drückte auf einen Knopf und stellte Brees Bett ein Stück hoch.
Das Zimmer, in dem sie lag, war klein. Mattgraue Fliesen bedeckten den Fußboden. Hinter einer halb offenen Tür erblickte sie ein Badezimmer, das mit einer hohen Toilette, Haltegriffen aus rostfreiem Stahl und einer behindertengerechten Dusche ausgestattet war. Das schmale, vom Fußboden bis zur Decke reichende Fenster ging auf einen Parkplatz hinaus. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen war es später Nachmittag. Auf einem orangefarbenen Plastikstuhl lag eine prallvolle Tragetasche. Diese Tasche kannte Bree. Sie gehörte ihrer kleinen Schwester Antonia. Sie wusste in der Tat, wer sie war und wo sie war. Bree ließ sich gegen das Kissen sinken. Das Umherblicken im Zimmer hatte sie, obwohl nicht besonders anstrengend, etwas erschöpft.
»O mein Gott! Du bist wach!«
Antonia stürmte ins Zimmer, blieb abrupt stehen und riss die Arme hoch. »Ich gehe kurz mal zum Getränkeautomaten runter – und was passiert?«
»Ich komme zu mir.«
»Du kommst zu dir!«
Antonia sah aus, als hätte sie eine Woche lang nicht geschlafen. Ihr graues Sweatshirt mit der Aufschrift University of North Carolina wies etliche Kaffeeflecken auf, und offenbar hatte sie sich auch einige ihrer sorgfältig manikürten Fingernägel abgekaut. All das bemerkte Bree auf einen Blick. »Mir geht’s bestens, weißt du«, sagte sie.
»Natürlich«, erwiderte Antonia.
Dann brach sie in Tränen aus.
»Oje«, sagte Ollie. Er nahm Antonias Tasche vom Stuhl und legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. »Setzen Sie sich, setzen Sie sich doch. Und hören Sie auf, Ihre Schwester anzufassen. Lassen Sie ihren Fuß los. Patienten mit Verbrennungen darf man nicht berühren. Wegen der Infektionsgefahr. Lassen Sie sie bitte in Ruhe.«
Antonia ließ Brees Fuß los und sank auf den Stuhl. Sie wischte sich mit dem Unterarm über die Augen. »Alles klar.«
Bree betastete ihre Wangen. Ihre Gesichtshaut war unversehrt, wenn auch sehr empfindlich. Ihr linker Unterarm war mit Gaze umwickelt, ihre Hände schienen aber okay zu sein. Ihr rechter Unterarm – der, in dem die Kanüle steckte – sah wie nach einem besonders schlimmen Sonnenbrand aus. Als sie ihre Beine unter dem Laken bewegte, stellte sie fest, dass diese geschient waren.
»Jetzt, wo sie wach ist, sollte ein Arzt nach ihr sehen, Ollie«, sagte Antonia. »Holen Sie bitte einen. Sofort.«
»Herrgott noch mal, Tonia, du kannst die Leute doch nicht einfach so rumkommandieren.«
»Hör auf, Herrgott noch mal zu mir zu sagen! Drücken Sie auf das kleine Ding da, Ollie. Auf den Notfallknopf.«
Ollie zwinkerte Bree zu. »Bleiben Sie, wo Sie sind, Ms. Beaufort. Bin gleich wieder da.« Er schloss die Schwingtür behutsam hinter sich. Unmittelbar darauf öffnete sie sich von Neuem. Hunter trat ins Zimmer. Er hatte schwarze Ringe unter den Augen und sah genauso erschöpft aus wie Antonia.
»Sie schon wieder!«, stellte Antonia fest. »Nicht jetzt. Sie ist gerade erst aufgewacht. Kommen Sie später wieder, Lieutenant. Es sei denn, Sie wollen uns mitteilen, dass Sie den Kerl, der ihr das angetan hat, erschossen haben.«
»Noch nicht.« Hunter ging zum Fuß des Bettes und ließ den Blick über die Verbände, den Tropf und Bree selbst schweifen. Obwohl sein Gesicht völlig ausdruckslos war, bemerkte Bree ein Glitzern in seinen Augen, das sie dort noch nie zuvor gesehen hatte. Wut? »Ich würde dich ja fragen, wie du dich fühlst, aber du machst einen ziemlich zugedröhnten Eindruck.«
»Ich fühle mich ganz gut«, erklärte Bree. »Vielleicht ein bisschen benommen.« Sie lächelte. »Tut mir leid, dass ich dir nicht deine Fisch-Tacos bringen konnte.«
»Ja.« Er senkte den Kopf. Weinte er etwa? Bree versuchte sich aufzurichten.
»Liegen geblieben, Schwesterherz!« Antonia sprang vom Stuhl hoch und gesellte sich zu Hunter ans Fußende des Bettes. »Mir ist schleierhaft, warum Sie die ganze Zeit hier herumhängen, Hunter. Sie sollten lieber rausgehen und den Kerl erschießen, wie ich vorhin schon gesagt hab. Sie braucht Schlaf. Sie braucht einen Arzt. Sie braucht auch meine Mutter, die gleich hier sein wird. Sie braucht sie nicht.«
»Ach du liebe Zeit«, sagte Bree. Francesca und Royal wohnten auf Plessey, etwa dreihundert
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