Gerechte Engel
telefoniert. Ron, das ist mein Vater.«
Ron schüttelte Royal die Hand, umarmte Francesca und beugte sich zu Bree hinunter. »Lavinia hat darauf bestanden mitzukommen«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Ich werde darauf achten, dass sie nicht zu lange bleibt.«
»Sie sieht … etwas mitgenommen aus«, stellte Bree besorgt fest.
»In ihrem Alter erfordert so was sehr viel Kraft.« Ron trat zurück und fuhr in normaler Lautstärke fort: »Sie sehen ja recht munter aus, Boss.«
»Ich fühle mich auch gut. Wollt ihr mal was Beeindruckendes sehen?« Sie sprang auf einem Bein vom Stuhl hoch, schnappte sich die Krücken und ging damit flott im Zimmer auf und ab.
Lavinia strahlte. »Scheint ja wirklich zu stimmen, dass Sie rapide Fortschritte machen.«
»Wird nicht lange dauern, dann komme ich wieder ins Büro.«
»Das wird man sehen«, murmelte Francesca. »Aber wo bleiben denn meine Manieren? Bitte setzen Sie sich doch alle. Darf ich Ihnen einen Tee bringen, Mrs. Mather?«
»Das wäre schön«, erwiderte Lavinia. »Aber machen Sie sich bitte keine Umstände. Ich bleibe sowieso nicht lange.«
»Setzen Sie sich neben Royal aufs Sofa. Trinken Sie Ihren Tee mit Zitrone oder mit Zucker?«
»Ich hätte gern Zucker. Danke vielmals.« Lavinia hockte sich auf die Sofakante und sah sich im Zimmer um. »Meine Güte, hier hat sich ja kaum was verändert.«
»Wann waren Sie denn das letzte Mal hier, Mrs. Mather?«, fragte Royal.
Oh, so um 1754, dachte Bree. Als sie zusammen mit den anderen verkauften Sklaven ins Büro des Zahlmeisters gekommen war.
»Das ist schon ein Weilchen her«, antwortete Lavinia mit versonnenem Lächeln. Sie nahm die Tasse Tee, die Francesca ihr reichte. »Ich musste einfach herkommen und mich davon überzeugen, dass sie so gute Fortschritte macht, wie Ron behauptet hat. Wenn etwas wirklich wichtig ist, sehe ich’s mir gern selbst an.« Sie stellte die Teetasse auf den Beistelltisch und wandte sich Royal zu. »Bree hat uns erzählt, Sie hätten einen Blick auf all die Dokumente geworfen, die Florida Smith über den Fall Haydee Quinn zusammengetragen hat.«
Bree hatte eigentlich nicht die Absicht gehabt, ihrem Vater die Dokumente zu übergeben – obwohl sie Florida Smith gegenüber das Gegenteil behauptet hatte. Aber da er zu einer gewissen Rastlosigkeit neigte, vor allem wenn er keine Beschäftigung hatte, hatte sie ihm die Unterlagen schließlich doch überlassen, um ihn gewissermaßen ruhigzustellen.
»Ja, in der Tat. Sehr interessant, das alles.«
»Ergibt das Ganze für Sie mehr Sinn als für Bree?«
Royal klopfte seine Jackentaschen ab, erinnerte sich wieder einmal, dass er das Pfeiferauchen schon vor Jahren aufgegeben hatte, und begnügte sich damit, sich nachdenklich über das Kinn zu streichen. »1952 war ich zwölf Jahre alt, und ich habe die Verbrennung von Haydees Leiche sogar selbst miterlebt.«
»Tatsächlich?«, sagte Bree. »Ach du liebe Zeit.«
Francesca erschauderte. »Was für ein Anblick für einen Jungen.«
»Tja, wie ihr wisst, haben wir den vierten Juli gewöhnlich hier am Fluss verbracht.« Er deutete ein Lächeln an. »Und das … äh … das Spektakel war auch einer der Gründe dafür, dass wir damit aufgehört haben. Jedenfalls habe ich Alexander Bulloch gesehen. Das werde ich nie vergessen. Der arme junge Mann war ganz außer sich vor Schmerz. Natürlich interessierte mich der Fall ungemein, deshalb habe ich auch alles darüber gelesen, was ich in die Hände bekommen konnte. Und habe, sooft es ging, die Gespräche der Erwachsenen belauscht. Deine Großmutter und dein Großvater verkehrten mit den Bullochs, Bree, und natürlich war die ganze Geschichte ein Riesenskandal und wochenlanges Gesprächsthema bei jedem Zusammentreffen. Meine eigene Hypothese über den Fall könnte also durch das, woran ich mich erinnere, etwas eingefärbt sein. Obwohl ich versucht habe, mich von allen Vorurteilen freizumachen, die ich mir als Junge möglicherweise angeeignet habe.«
»Und wer hat nun Haydee Quinn getötet?«, fragte Francesca.
Royal legte die Fingerspitzen aneinander und klopfte sich damit gegen das Kinn. »Bevor ich mich dazu äußere, müssen wir zunächst zwei Fragen klären. Nun, Bree, was für Fragen sind das wohl?«
»Wo sie hingegangen ist, nachdem sie sich verwundet aus dem Nachtclub geschleppt hat«, erwiderte Bree prompt. »Und wer sie begleitet hat.«
»Genau. Da liegt jedenfalls die Lösung, falls es tatsächlich zu einem Justizirrtum gekommen ist – was ich
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