Gerechtigkeit fuer Igel
benötigen wir meine Werttheorie, um sie zu beantworten. Brooks, Leavis, Foster, Hirsch, Dover Wilson und Greenblatt scheinen mit so unterschiedlichen Unterfangen beschäftigt zu sein, daß die Behauptung, sie kämen mit denselben Interpretationsmethoden zu unterschiedlichen Ergebnissen, nicht wirklich plausibel ist. Ein bloßer Vergleich ihrer Vorgehensweisen kann keinen Konflikt generieren – auch Jung hielt einen Konflikt zwischen seiner Psychologie und literarischen Interpretationen nicht für möglich. Um einen Konflikt auszumachen, müssen wir uns statt dessen auf das konzentrieren, was ich als zweites Stadium
243 einer rekonstruierten Interpretation bezeichnet habe – also darauf, welche Werte die Literaturkritiker mit jener Praxis, die sie zu teilen glauben, assoziieren.
Die Vertreter einer bestimmten Schule der Interpretation stimmen hinsichtlich des Zwecks einer umfassenderen Praxis überein, an der auch andere Interpreten beteiligt sind. Im Bereich der Literaturkritik kann man ebenso wie im Bereich der Literatur Traditionen ausmachen, und was T. S. Eliot über Autoren sagte – daß sie nur im Rahmen einer von ihnen interpretierten und so rückwirkend mitgeprägten Tradition Gedichte schreiben können –, trifft auch auf Interpreten zu.
31 Literaturkritiker sehen ihre Arbeit als Teil einer Tradition, die einen gewissen Wert hat und daher mit Verantwortung einhergeht. Um welchen Wert es sich dabei handelt, worin jene Verantwortung also besteht, ist aber umstritten. Die Vertreter des New Criticism haben sich nicht einfach einer anderen Fragestellung zugewandt, wie ein Arzt, der sich auf ein Fachgebiet spezialisiert. Sie waren der Überzeugung, daß mit der Tradition der Literaturkritik eine wichtige Verantwortung verbunden ist, und zwar die, etwas Wertvolleres aus literarischen und vor allem dichterischen Werken zu machen, als es mit anderen Methoden möglich ist; und sie waren überzeugt, mit Hilfe ihrer Methoden den Anforderungen der traditionsreichen Praxis der Kritik besser gerecht zu werden. Marxistisch geprägte Literaturkritiker hingegen verbanden mit dieser Tradition eine ganz andere Verantwortung. Fredric Jameson formuliert ihre Sichtweise wie folgt: »Der jeweilige Text behält seine formale Struktur als symbolische Handlung; aber der Wert und Charakter solcher symbolischer Handlungen sind nunmehr in signifikanter Weise modifiziert und ausgeweitet. In dieser neuen Lesart wird die Einzeläußerung bzw. der Text als symbolisches Manöver im Rahmen einer im Kern polemischen und strategisch geführten ideologischen Klassenauseinandersetzung begriffen, deren Beschreibung (bzw. Herausarbeitung in dieser Form) einen ganzen Satz verschiedener Analyseinstrumente verlangt.«
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244 Diese zugrundeliegende Dynamik der kleinen und großen Verschiebungen zwischen Schulen und Moden der Interpretation ist in zwei Annahmen begründet: der von allen geteilten Annahme einer mit dieser Praxis verbundenen Verantwortung und einer Annahme darüber, wie man dieser Verantwortung gerecht werden kann, die verschiedene konkrete Gestalten annehmen kann. Richter, Historiker und Literaturkritiker sind der Auffassung, daß es in ihrer Verantwortung liegt, bestimmte Funktionen zu erfüllen, die sich aus der Tradition eines bestimmten Genres ergeben. Die Theorien, die sie hinsichtlich dieser Verantwortung entwickeln, sind ebenso schöpferisch wie die konkreten Interpretationen, die sie auf ihnen aufbauend vorschlagen, und sind noch offensichtlicher unvereinbar. Vergleichen Sie zum Beispiel die Behauptung des marxistischen Literaturkritikers Terry Eagleton, die moderne Kritik sei »aus dem Kampf gegen einen absolutistischen Staat entstanden«, damit, wie die Geschichte der Literaturkritik von den Vertretern fast jeder anderen Schule der Interpretation dargestellt wird.
33 Um zu erkennen, daß es hier um echten Dissens zwischen verschiedenen Ansätzen und nicht nur um unterschiedliche Fragestellungen geht, müssen wir deren Argumentationen also bis auf diese Ebene einer interpretativen Rekonstruktion unterziehen. Erst wenn wir ernst nehmen, was von den Kritikern selbst gesagt wird und daß ihr Widerspruch von ihren Gegnern auch als solcher verstanden wird, können wir im Rahmen unserer eigenen Interpretation ihrer Theorien entscheiden, ob zwei Fragestellungen und Vorgehensweisen wirklich unabhängig voneinander sind oder sich widersprechen. Nur dann wird deutlich, daß eine Jung'sche Erklärung des Hamlet von einer
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