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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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hinzufügen, daß Ereignisse im Hinblick darauf beurteilt werden müssen, was letztendlich an ihnen entscheidend war, was bedeutet, daß wir ihnen zumindest bis in die Gegenwart nachspüren müssen, da wir nicht weiter gehen können. Er kann sagen, daß konkrete Geschehnisse in der Vergangenheit nur aufgrund ihrer Verbindung zum 20. Jahrhundert für uns relevant oder bedeutsam sein können.«
25 Dieser Sichtweise setzt Butterfield seine eigene entgegen: »Es fällt leicht, den Kampf zwischen Christentum und Heidentum als ein Spiel der Kräfte zu sehen und abstrakt zu erörtern, aber es ist viel erhellender, diesen Kampf als ein Mit- und Gegeneinander von Persönlichkeiten und Menschen zu verstehen, [… und es ist] viel interessanter, bei der anfänglichen allgemeinen Aussage anzusetzen und sie bis in die konkreten Einzelheiten weiterzuverfolgen, bis wir feststellen, in welch vielfältige Einzelaspekte sie zerfällt. Der Historiker führt uns auf diesem Weg weg von der Welt allgemeiner Ideen.«
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    Was ein bestimmter Historiker für »erhellend« oder »interessant« hält – vergleichen Sie etwa Thomas Macaulays Faszination für große Ideen als moralische Lehren mit Butterfields Begeisterung für winzige Details, die er für sich genommen interessant fand –, beeinflußt, was er glaubt, der Geschichte entnehmen zu können, oder was, mit anderen Worten, bestimmte Epochen oder Ereignisse in seinen Augen »bedeuten«. Butter
239 field zufolge verschließen Whig-Historiker die Augen vor dem von den Religionskriegen verursachten Leid. Das ist mit einiger Sicherheit falsch – denn wie sollte das möglich sein –, aber es ist durchaus denkbar, daß jenes Leid in ihren Augen zwar außerordentlich beklagenswert war, aber nichts zu dem beizutragen hat, was eine historische Deutung jener Kriege für uns heute wertvoll macht. Marxistische Historiker vertreten noch eine andere Position; britischen Vertretern dieses Ansatzes zufolge geht es darum, »Geschichte von unten« zu schreiben – also aus der Perspektive der armen oder unterdrückten Bevölkerungsschichten. Dieses Vorgehen kann nicht aus den Annahmen des historischen Materialismus heraus erklärt werden – oder zumindest nicht vollständig. Der Umstand, daß eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die Geschichte der Unterdrückung zum Kampf um eine bessere Gesellschaft beitragen kann, ist hier wichtiger. Daß die Geschichtsschreibung eine Waffe in der Hand der Massen sein kann, regt dazu an, bestimmte Aspekte der Geschichte für wichtig zu halten.
    Unabhängigkeit, Ergänzung und Konkurrenz
    Lassen Sie mich nun noch auf einige weitere Unterscheidungen hinweisen, ohne die wir der interpretativen Praxis und Einstellung nicht einmal in Ansätzen gerecht werden können. Interpretationen desselben Gegenstands oder Ereignisses können erstens unabhängig voneinander sein, wenn man auf der Basis der einen Interpretation die andere entweder akzeptieren oder zurückweisen kann; sie können sich zweitens ergänzen, wenn die eine Interpretation zusätzliche Einsichten verschafft und die andere ebenfalls als zutreffend und wichtig anerkannt wird; und sie können drittens miteinander konkurrieren, wenn in der einen Behauptungen enthalten sind, denen zufolge die andere Interpretation unzulänglich ist. Wenn wir kausal erklären, wie ein bestimmtes Kunstwerk entstanden ist – und etwa behaup
240 ten, daß der Künstler beauftragt wurde, den Sponsor im Akt der Anbetung zu porträtieren und dabei möglichst viel teures Kobaltblau zu verwenden –, ist dies an sich unabhängig von einer Deutung jenes Werks, beispielsweise als fromm oder ironisch.
    Carl Gustav Jung ging davon aus, daß psychologische Erklärungen dessen, warum ein Künstler schreibt oder malt, von den Deutungen eines Kunstwerks auf diese Weise unabhängig sind: »Man kann wohl die Bedingungen des künstlerischen Schaffens, den Stoff und dessen individuelle Behandlung z. B. auf das persönliche Verhältnis des Dichters zu seinen Eltern zurückführen, wobei aber für das Verständnis seiner Kunst nichts gewonnen ist.«
27 Laurence Olivier hingegen brachte mittels Gestik und Intonation in seiner Hamlet-Interpretation durchweg ein psychodynamisches Verständnis der Rolle zum Ausdruck. Wie viele seiner Zeitgenossen bezog sich der berühmte Schauspieler auf Freuds Analysen, nicht nur im Rahmen von Spekulationen darüber, warum Shakespeare die Zimmerszene so und nicht anders verfaßte, sondern auch, um zu

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