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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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entscheiden, wie eine bestimmte Szene verstanden werden sollte. Obwohl man seine Interpretation von Hamlet meines Erachtens auch als ergänzend verstehen kann (worauf ich später näher eingehen werde), ging es ihm eindeutig darum, dem Publikum etwas über das Theaterstück selbst zu vermitteln, und nicht nur über den Verfasser.
    Woran können wir festmachen, ob zwei Interpretationen eines bestimmten Werks unabhängig, ergänzend oder konkurrierend sind? Wie entscheiden wir, ob Fosters Interpretation des Gedichts Among School Children andere nichtbiographische Auffassungen, wie sie von Brooks und Leavis vorgeschlagen wurden, nur ergänzt oder ob sie als vielleicht bessere Lesart erwogen werden sollte? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir selbst eine Interpretation wagen, die allerdings nicht das fragliche Gedicht, sondern die hier untersuchten kritischen Ansätze zum Gegenstand hat. Lassen Sie mich ein weiteres Bei
241 spiel anführen. Der bekannte Shakespeare-Kritiker J. Dover Wilson hält es für ausgemacht, »daß Shakespeare und sein Publikum Bolingbrokes Machtergreifung als Usurpation betrachteten«,
28 und daß Richard II . daher als Verteidigung der legitimen politischen Ordnung gelesen werden müsse. Daß dem so sei, trete im ganzen Theaterstück deutlich hervor durch die Verwendung von Ausdruck und Emphase. Als Vertreter des von ihm so genannten »New Historicism« wandte sich Stephen Greenblatt nicht gegen Dover Wilsons Beschreibung der politischen Landschaft der Tudorzeit (obwohl er bemerkt, daß Elisabeth I . allem Anschein nach eine andere Position vertrat), sondern behauptete, Wilson sei zwar kein Vertreter des New Criticism, gehe aber doch davon aus, daß es eine historisch konstante richtige Interpretation jenes Meisterwerks gebe; Bedeutungen sind dieser Sichtweise zufolge also keine sozialen Artefakte, die sich abhängig von historischen Umständen immer wieder ändern, sondern werden vom Künstler zu einem bestimmten Zeitpunkt festgelegt. Greenblatt sieht das anders. Seines Erachtens sind Interpretationen »nicht den Texten inhärent ; vielmehr werden sie von Künstlern, dem Publikum und Lesern gemacht und ständig neu getroffen. […] So gesehen bedeutet die Untersuchung von Gattungen eine Erkundung der Poetik von Kultur.«
29 Er weist deswegen darauf hin, daß Dover Wilson seine Interpretation 1939 einem Weimarer Publikum vortrug, als die Verteidigung einer legitimen, aber schwachen Regierung der historischen Situation doch sehr angemessen scheinen konnte.
    Vielleicht neigen Sie zu dem Gedanken, daß Greenblatts Überlegungen zu Richard II . denen von Dover Wilson eigentlich gar nicht widersprechen, weil es sich schlicht um eine andere Fragestellung handle. Wenn dem so ist, müßte man Greenblatts Schlußfolgerungen als ergänzend oder unabhängig verstehen. Ein weiterer bedeutender Literaturkritiker namens E. D. Hirsch, dessen Ansatz sich wesentlich auf mentale Zustände beruft, unterscheidet zwischen der Signifikanz eines Kunstwerks für
242 das jeweilige Publikum, die sich natürlich in Abhängigkeit von den historischen Umständen verändert, und seiner Bedeutung, wobei er letztere für feststehend hält.
30 Man könnte nun behaupten, Dover Wilson befasse sich mit der Bedeutung von Richard II . , während Greenblatt die Signifikanz im Auge habe, die das Theaterstück unter anderem für Dover Wilson selbst und sein Weimarer Publikum hatte; so gesehen liegt hier kein Widerspruch vor. Das ist aber nicht überzeugend. Man kann Greenblatt einfach nicht auf diese sehr verlockende Weise lesen, weil er eindeutig der Meinung ist, daß die »modischen« Interpretationsmethoden, die er durch den von ihm vertretenen New Historicism ersetzen will, nicht nur auf Interpretation im Unterschied zu Sozialgeschichte begrenzt sind, sondern tatsächlich aufgrund mangelnder Einbeziehung der Sozialgeschichte als Interpretation unzulänglich sind. Auch zum Postmodernismus, der Dekonstruktion, der feministischen Literaturkritik und all den anderen Small-talk-Ansätzen gehört ein solcher Anspruch. Anstatt sich mit einem bequemen Nebeneinander zufriedenzugeben, erklären ihre Vertreter anderen Schulen immer wieder den Krieg.
    Worum wird hier gekämpft? Was glaubt Greenblatt mit seiner neuen Schule der Literaturkritik erreichen zu können, das nicht nur anders, sondern besser ist als alles, was zuvor getan wurde? Das ist eine schwierige Frage, der oft nicht genug Beachtung geschenkt wird, und meines Erachtens

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