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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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Freud'schen unabhängig ist, während zwischen einer Whig-Interpretation der Religionskriege und einer marxistischen ein echter Widerspruch besteht, ebenso wie zwischen traditionellen und revisionistischen Interpretationen von Richard II .
    Wenden wir uns nun den tiefen Gräben zwischen verschiedenen Auffassungen im Bereich des Rechts zu. Die Parallelen
245 sind am deutlichsten zu erkennen, wenn wir uns auf Richter beschränken – nicht weil Richter die einzigen sind, die Gesetze interpretieren, das ist natürlich nicht der Fall –, sondern weil wir in ihrem Fall ein klareres Bild der mit dem Beruf verbundenen Verantwortung und Tradition haben als etwa bei Staatsanwälten, Professoren oder Bürgern. Richter haben diese Verantwortung im Laufe der Geschichte der westlichen Rechtsprechung, von Justinian bis zum Internationalen Strafgerichtshof, auf sehr unterschiedliche Weise interpretiert. Die sogenannte »Konstruktionsjurisprudenz« ist ebenso Teil dieser Tradition wie die moderneren interpretativen Schulen der richterlichen Zurückhaltung oder judicial deference , des Rechtsrealismus, der Sozialpolitik, der Rechtsökonomie, der interpretativen Analyse und aller anderen Ansätze, die noch auf uns zukommen. Hier ist der Konflikt jener Schulen leichter zu erkennen als im Rahmen anderer interpretativer Genres, weil die institutionellen Anforderungen und die Konsequenzen der Rechtsprechung bestehen bleiben, während die Weisen, wie Gesetze interpretiert werden, sich ändern. Trotzdem kann man mit Blick auf den Wandel des Verständnisses anderer interpretativer Rollen in unserer Zeit – in der Gesichtswissenschaft von Hugh Trevor Roper zu Eric Hobsbawm, im Journalismus von Walter Lippman über Edward R. Murrow bis zu Hunter S. Thompson, in der Kunstkritik von Bernard Berenson hin zu Svetlana Alpers und Michael Fried – erkennen, wie hier auf ganz parallele Weise immer wieder neu ausgelegt wurde, wie man der jeweiligen Verantwortung gerecht werden kann.
    Diese Vielfalt von Interpretationstypen und der Beziehungen zwischen ihnen sollte man aber nicht als wichtiger darstellen, als sie ist. Es ist selten entscheidend, unter welche Kategorie wir das Werk eines Kritikers fallenlassen. Wir können von dem, was uns erhellend erscheint, profitieren, ohne uns von anderen Fragen und Einteilungen ablenken zu lassen oder genau zu eruieren, ob und inwieweit sich bestimmte Literaturkritiker wirklich widersprechen. Zuweilen ist es aber doch wich
246 tig, eine entsprechende Entscheidung zu treffen, entweder um Unklarheiten zu vermeiden oder um echte und wichtige Widersprüche in den Blick zu bekommen, die wir ansonsten vielleicht übersehen hätten. In den letzten Jahren entstanden an den Universitäten und besonders den rechtswissenschaftlichen Fakultäten ungemein viele sich selbst als »kritisch« bezeichnende neue Schulen der Interpretation, die dann schnell wieder in der Versenkung verschwanden. Kritische feministische Interpretationen des Werks von Walt Disney weisen darauf hin, daß Minnie Maus eine stereotype Darstellung einer Frau ist und außerdem Mickey Maus gegenüber stets in einer untergeordneten Position bleibt, die nie hinterfragt wird.
34 Das scheint auf den ersten Blick kein Beispiel einer kollaborativen, sondern einer erklärenden Interpretation zu sein. Sicher ging es in dieser Kritik nicht darum, mit Disney an einem ästhetischen Unterfangen zusammenzuarbeiten, sondern vielmehr darum, etwas aufzudecken, was als wichtiger und äußerst schädlicher Aspekt der Populärkultur verstanden wird, nämlich ihre sexistischen Wurzeln und verborgenen Einflüsse. Daß im Rahmen dieses Ansatzes konventionelleren Sichtweisen, denen zufolge die Naivität dieser anthropomorphisierten Tiere ihren Charme ausmacht, mit einigem Ärger begegnet wird, sollte dabei nicht übersehen werden. Der feministischen Literaturkritik zufolge werden Interpreten, die den Sexismus einfach ignorieren, einer wichtigen Verantwortung nicht gerecht, die mit jener Genretradition verbunden ist, weil sie zur Reproduktion dessen beitragen, was sie ignorieren.
    Am Aufstieg und Fall der sogenannten critical legal studies beziehungsweise »Kritischen Rechtslehre« in den US -amerikanischen Rechtswissenschaften läßt sich dieses Phänomen noch besser illustrieren. Für die »Crits«, wie sie sich selbst nannten, war es von zentraler Bedeutung, die weitverbreitete Annahme zu widerlegen, daß es sich beim Recht um ein Erzeugnis einer Gesetzgebung handelt, die

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