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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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Interpretationen gut sind, steigt und fällt zugleich die Autorität des Autors, er stirbt und wird wiedergeboren.
    258 Außerdem kann man mit Hilfe der Werttheorie auch die anderen anfangs gestellten Fragen beantworten. Wie bereits bemerkt, erklärt sie die Ambivalenz, die wir hinsichtlich der Wahrheit von Interpretationen immer wieder beobachten. Während es offensichtlich ist, daß es hier Meinungsverschiedenheiten gibt, sind deren Ursachen fast immer schwer zu erkennen, da sie unter einer enormen Vielfalt unartikulierter Annahmen über Recht, Kunst, Literatur oder Geschichte begraben sind, die selten ans Licht gebracht werden und nur als Ergebnis einer bestimmten Kombination von inhärenten Präferenzen, einem bestimmten Bildungsweg, kultureller Anpassung, Zugehörigkeit und Gewohnheit erklärt werden können. So gesehen ist es kein Wunder, daß wir so selbstverständlich davon sprechen, ein Gedicht oder ein Bild einfach auf die eine oder andere Weise »wahrzunehmen«; oft fühlt sich das entsprechende Urteil einfach so an. Natürlich erscheint es rücksichtsvollen Menschen als arrogant, darauf zu bestehen, daß eine interpretative Frage genau eine wahre Antwort hat und daß alle, die ein bestimmtes Gesetz oder ein Gemälde nicht auf diese Weise wahrnehmen, einfach falschliegen. Hingegen scheint es realistischer und bescheidender zu sagen, daß es nicht die eine richtige Interpretation gibt, sondern einfach verschiedene, die angemessen oder verantwortungsbewußt sind.
    Trotzdem dürfen wir genau das nicht sagen, wenn wir ehrlich sein wollen, weil wir es nicht glauben oder nicht glauben können. Ich wiederhole: Ein Wissenschaftler, der sich jahrelang um eine neue Lesart von Hamlet bemüht hat, kann unmöglich glauben, daß seine vielschichtigen Einsichten nicht besser sind als die alternativen Ergebnisse anderer Gelehrter; ein Richter, der jemanden aufgrund einer bestimmten Auslegung einer Gesetzespassage zu einer Haftstrafe verurteilt, obwohl er sie nicht für besser, sondern nur für anders als andere widersprüchliche Interpretationen hält, sollte selbst ins Gefängnis geworfen werden. Die Werttheorie rechtfertigt unsere Überzeugung, daß wir mit unseren komplexen, kontroversen und nicht vollständig aus
259 drückbaren Urteilen etwas Wahres verkünden. Wenn Interpreten akzeptieren, daß die Antwort auf die Frage, ob sie in ihrem Unterfangen erfolgreich waren, von einem komplexen Netz von Werten abhängt, können sie vernünftigerweise auch der Ansicht sein, daß diese Werte identifiziert werden können und ihnen in einem konkreten Fall eine bestimmte Interpretation besser gerecht wird als andere. Wenn sie umgekehrt zu dem Ergebnis gekommen sind, daß eine Interpretation von etwas die beste ist, können sie auch vernünftigerweise die Meinung vertreten, daß diese Interpretation eine diesem Unterfangen angemessene Erfolgsprüfung bestehen würde, auch wenn sie nicht in allen Einzelheiten sagen können, wie eine solche Prüfung aussehen würde. Sie können also der Ansicht sein, daß es im Bereich der Interpretation objektive Wahrheit gibt, aber natürlich nur, wenn sie denken, daß das auch im Bereich der Werte der Fall ist. Meine Argumentation im ersten Teil dieses Buches bildet mithin eine notwendige Grundlage für meine Argumentation in diesem Kapitel.
    Ich habe bereits auf ein Manöver hingewiesen, das Menschen dabei hilft, sich nicht für arrogant halten zu müssen, wenn sie auf jenen Interpretationen bestehen, die ihnen am meisten zusagen. Sie behaupten, daß wissenschaftliche Aussagen zwar wahr oder falsch sind, interpretative Urteile aber anders beschrieben werden müssen. Sie sind stichhaltig oder nicht, mehr oder weniger nachvollziehbar oder irgend etwas in der Art. Diese Unterscheidungen sind inhaltsleer. Natürlich können wir stipulieren, daß »wahr« im Fall wissenschaftlicher Urteile als Zustimmungsoperator verwendet werden soll, im Fall von Interpretationen hingegen »am vernünftigsten« Ausdruck der Wahl sei. Aber das wäre sinnlos, weil es keinen Vorteil hätte.
46 Wir können eine solche Unterscheidung nicht zu den uns vertrauteren Unterscheidungen in Beziehung setzen, indem wir zum Beispiel erklären, daß »wahr« Objektivität signalisiert, »am vernünftigsten« hingegen nur Subjektivität, oder daß »wahr« ein kognitives Urteil anzeigt und »am vernünftigsten« eine Art
260 nichtkognitiven expressiven Akt. Jede alternative positive Einstufung interpretativer Urteile muß vor dem

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