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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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des Weltraums fasziniert ist, hängt davon, wie faszinierend das Universum ist, nicht ab, ob die Theorie des Urknalls wahr ist. Unser Wunsch, einen bestimmten Fluß zu überqueren, sagt nichts über die Wahrheit von Prinzipien aus, die voraussagen, ob eine Brücke standhalten oder zusammenbrechen wird. Wenn dem nicht so wäre, würde die unverzichtbare Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher Wahrheit und unserem Interesse an der Wahrheit kollabieren. Die Einsicht, daß rechtfertigende Ziele nichts mit der Wahrheit zu tun haben, gehört zur grundlegenden Struktur der Wissenschaft. Ohne sie können wir ebendiese Ziele nicht erreichen. Vielleicht entspricht und dient diese außerordentlich wichtige Trennung von Wahrheit und Zweck in der Wissenschaft, wie einige bedeutende Philosophen vorgeschlagen haben, unseren Zielen auf einer abstrakteren Ebene; ich werde im nächsten Kapitel kurz auf diese Möglichkeit eingehen. Eine solche Überlegung stellt die Trennung aber nicht in Frage, sondern unterstreicht nur, wie wichtig sie ist.
    Im Fall der Interpretation verhält es sich vollkommen anders; hier ist der jeweils rechtfertigende Zweck direkt mit dem Gelingen verbunden. Wenn meine Werttheorie korrekt ist, so hängt davon, welchen Sinn Interpretation unseres Erachtens in einem bestimmten Genre hat, ab, an welchen Maßstäben der Erfolg einer konkreten Deutung gemessen werden muß. In der
263 Sphäre der Interpretation fallen rechtfertigende und intrinsische Ziele also in eins. Interpreten gehen von bestimmten Zwecken und den ihnen zugrundeliegenden Werten aus, und obwohl diese Annahmen oft nicht explizit gemacht werden oder sogar gänzlich unbemerkt bleiben, bestimmen sie letztendlich, ob eine konkrete Deutung akzeptiert oder abgelehnt wird.
    Dieser entscheidende Unterschied zwischen Wissenschaft und Interpretation als den zwei großen Sphären des Erkenntnisgewinns entspricht einigen der Differenzen zwischen Wissenschaft und Moral, auf die ich in den vorangegangenen Kapiteln hingewiesen habe, und erklärt sie. Interpretative Aussagen können im Gegensatz zu wissenschaftlichen Behauptungen nicht schlicht wahr sein, sondern nur aufgrund einer interpretativen Rechtfertigung, die auf einem komplexen System von Werten beruht, die ebenfalls nicht schlicht wahr sein können. Es kann nicht sein, daß die korrekte Interpretation des Grundsatzes des gleichen Rechtsschutzes es für Bundesstaaten verfassungswidrig macht, Kindern keine Führerscheine auszustellen, weil sich die Tatsachen einfach so verhalten, obwohl kein Jurist je Grund zu dieser Ansicht hatte, oder daß es sich bei Yeats' Gedicht Sailing to Byzantium in Wirklichkeit um eine Kritik des britischen Imperialismus handelt, obwohl nicht eingehender begründet werden kann, warum. Eine Interpretation ist kein Beleg einer hinzukommenden Tatsache. Wenn eine interpretative Aussage wahr ist, liegt das daran, daß bessere Gründe für sie sprechen als für alternative interpretative Behauptungen. Aus diesem Grund müssen wir bei der Rekonstruktion der Argumentation bedeutsamer Kritiker von einem Netz der Werte und nicht von einer Kette ausgehen.
    Interpretation ist durchweg holistisch. Sie verwebt zahllose Werte und Ansichten unterschiedlichster Art miteinander, die einer großen Vielfalt von Urteilen und Erfahrungen entnommen sind, und die in interpretativen Argumentationen zum Ausdruck kommenden Wertenetze lassen keine Hierarchie der Dominanz und Unterordnung zu. Das Netzwerk unserer Über
264 zeugungen ist stets als Ganzes in Frage gestellt, denn wenn ein Faden verändert wird, kann das zu einem lokalen Erdbeben führen. Die Interpretation eines Gedichts oder eines Bildes, die jemand für die zweitbeste hält, kann sich radikal von der seines Erachtens besten unterscheiden; und eine dritte Interpretation, die sich nur wenig von der ersten unterscheidet, kann als sehr viel schlechter wahrgenommen werden. Es stimmt, daß einige Philosophen mit großer Eloquenz die Auffassung vertreten haben, daß auch die Wissenschaft holistisch ist: daß unsere Wissenschaft ebenfalls, wie Quine es formulierte, als ganze vor dem »Tribunal der Erfahrung« steht.
49 Ihnen zufolge gibt es keine gegenwärtig noch so etablierte und unzweifelhaft erscheinende Überzeugung, die wir nicht aufgeben könnten, wenn wir alle anderen Überzeugungen, die wir gegenwärtig haben, auch aufgäben und beginnen würden, die physikalische Welt in einem ganz neuen Vokabular zu beschreiben und zu erklären.
    In der

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