Gerechtigkeit fuer Igel
Wissenschaft ist der Holismus, wenn wir ihn überhaupt akzeptieren, jedoch fast völlig akademisch und passiv; er kann im praktischen Leben eigentlich keine Rolle spielen. Im Rahmen der normalen Praxis denken wir auf eine direkte und lineare Weise über Physik nach, über Pflanzenökologie und darüber, wie stark die Persönlichkeit von den Genen abhängt. Wir kommen Schritt für Schritt zu neuen Erkenntnissen ausgehend von derselben unberechenbaren großen Masse dessen, was wir alle als gegeben hinnehmen, und auf der Basis von Belegen, deren Kraft und Begrenztheit wir mehr oder weniger alle anerkennen. Der Erwerb und die Veränderung von Überzeugungen finden fast immer schrittweise statt: Wir überprüfen Hypothesen auf Basis der Annahme, daß in dem entsprechenden Test nur sie auf dem Spiel stehen und sonst nichts. Das ist nicht immer wahr. So trifft es nicht auf die spekulativeren Gebiete der theoretischen Physik und vielleicht auch nicht auf die einfache Biologie zu. Neue Belege können sehr viel von dem, was wir heute für geklärt halten, wieder in Frage stellen. Wenn Stephen Hawking sagt, daß schwarze Löcher letztend
265 lich vielleicht doch nicht Informationen zerstören, verschwinden bis dato interessante Theorien über alternative Universen von der Bildfläche.
50 Aber der Unterschied zwischen dem, was ein bestimmter verantwortungsbewußter Wissenschaftler über die Welt denkt, mit der wir tatsächlich konfrontiert sind, und dem, was andere denken, weil er eine kontroverse Ansicht akzeptiert, die sie alle ablehnen, ist verglichen mit dem, was ihrem Denken gemeinsam ist, sehr klein. Im Bereich der Interpretation liegen die Dinge ganz anders: Literaturkritiker oder Verfassungsrechtler, deren Werte sich in einer wichtigen Hinsicht stark unterscheiden, werden wahrscheinlich in einem weiten Feld interpretativer Überzeugungen unterschiedlicher Ansicht sein. Wir haben in diesem Kapitel viele Belege für diese Art von Spielraum kennengelernt. Im Bereich der Interpretation ist der Holismus nicht passiv, sondern sehr aktiv.
Diese Unterschiede zwischen Wissenschaft und Interpretation anzuerkennen trägt weiter dazu bei, unsere Zögerlichkeit angesichts der Erhebung von Wahrheitsansprüchen für unsere Interpretationen zu erklären. Der Interpretation fehlt genau das, was der Wissenschaft den Eindruck von Solidität gibt. Die Zulässigkeit schlichter Wahrheit verstärkt unser Gefühl metaphysischer Gewißheit enorm. Natürlich ist das nicht die Gewißheit darüber, daß wir die Wahrheit über die Welt erkannt haben – ich habe bereits darauf hingewiesen, daß die Idee einer schlichten Wahrheit die Möglichkeit einer sehr grundsätzlichen, unkorrigierbaren Art von Fehler zuläßt –, sondern die Gewißheit, daß es eine Wahrheit zu finden gibt. Wenn keine Wahrheit schlicht sein kann, geht dieser Trost verloren. Alle Zweifel, die wir hinsichtlich der Stichhaltigkeit unserer interpretativen Argumentation hegen, erinnern uns an die nicht automatisch auszuschließende Möglichkeit eines tiefen internen Skeptizismus: daß es vielleicht nicht die eine beste Argumentation und damit auch nicht die eine richtige Antwort gibt. Auch die Tatsache, daß die rechtfertigenden Ziele der Wissenschaft für die Wahrheit irrelevant sind, trägt zu ihrer Solidität bei. Zu wissen, daß
266 unterschiedliche rechtfertigende Ziele sich nicht darauf auswirken können, was einzelne Menschen für die wissenschaftlich fundierte Wahrheit halten, macht es vorteilhaft für uns, in diesem Bereich von einer Konvergenz der Meinungen auszugehen.
Hingegen sind im Bereich der Interpretationen die Unterschiede zwischen rechtfertigenden Absichten und Ambitionen zugleich automatisch methodologische Unterschiede, weil die Argumentation von diesen Unterschieden nicht abgeschottet, sondern durch sie geprägt ist. Das erklärt, warum Konvergenz problematisch und, wenn sie auftritt, meist zufällig zu sein scheint. Die Linearität der Wissenschaft ist eine weitere Quelle des Trosts: Kontroversen über neue Behauptungen oder Hypothesen sind nicht bedrohlich, weil selbst in spekulativen Gefilden Sandburgen auf einem Boden gebaut werden, dessen Festigkeit offenkundig ist. Hingegen bedeutet der aktive Holismus der Interpretation, daß es keinerlei festen Boden gibt, daß selbst dann, wenn unsere interpretativen Schlüsse unausweichlich scheinen, wenn wir denken, daß wirklich nichts anderes denkbar ist, wir immer noch von der Unausdrückbarkeit dieser
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