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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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Überzeugung verfolgt werden.
    Wir können uns angesichts unserer interpretativen Überzeugungen eines Gefühls der Luftigkeit und der Kontingenz nicht erwehren, weil wir wissen, daß andere Menschen denken, was wir nicht denken können, und daß es kein argumentatives Mittel gibt, um sie von unserer Sichtweise zu überzeugen. Und dasselbe gilt für sie. Es gibt kein Experiment, daß unsere auseinanderfallenden Gewißheiten versöhnt. Trotz alledem verdonnert uns das nicht zum Nihilismus, sondern wir müssen lediglich mit Ungewißheit leben. Wenn Sie mehr als das wollen – wenn Sie jeden interpretativen Skeptizismus zum Schweigen bringen wollen –, müssen Sie Argumente dafür finden, und diese werden wiederum ebenso luftig und kontrovers und ebensowenig in der Lage sein, andere zu überzeugen, wie die positiven Argumente, die Sie gegenwärtig nicht zufriedenstellen. Und so hängt
267 ein weiteres Mal letztendlich alles davon ab, was Sie wirklich und verantwortlicherweise denken. Nicht, weil es dadurch richtig ist, daß Sie es denken, sondern weil Sie es, indem Sie richtig darüber nachdenken, richtig denken.

268 Kapitel 8
Begriffliche Interpretation
    Wie ist Uneinigkeit möglich?
    Moralische Begründungen sind eine Form der Interpretation, sie sind aber weder kollaborativ noch erklärend. Daher gehören sie zur dritten der von mir im letzten Kapitel eingeführten Kategorien: zur begrifflichen Interpretation. Gemeinsam haben wir Menschen zahlreiche moralische Begriffe entwickelt – etwa Vernünftigkeit, Aufrichtigkeit, Vertrauenswürdigkeit, Taktgefühl, Anstand, Verantwortlichkeit, Grausamkeit, Schäbigkeit, Unempfindlichkeit, Täuschung und Grausamkeit; aber auch spezifisch politische Begriffe wie Legitimität, Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit, Demokratie und Recht. Unsere moralische Charakterbildung beruht auf Interpretationen in Form von Antworten auf Fragen wie die, was es heißt, aufrichtig, vernünftig oder grausam zu sein, oder welche Handlungen der Regierung legitim sind oder ob das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit verletzt worden ist. Bei der begrifflichen Interpretation sind Autor und Interpret nicht länger unterschieden, weil wir alle gemeinsam erschaffen haben, was wir nun einzeln und gemeinsam interpretieren. Die lange Geschichte der Philosophie besteht zu einem großen Teil aus begrifflicher Interpretation. Philosophen interpretieren die von ihnen untersuchten Begriffe auf eine viel reflektiertere und professionelle Weise, aber auch sie tragen dazu bei, das zu erschaffen, was sie interpretieren.
    Die Überschrift dieses Abschnitts klingt wahrscheinlich zunächst etwas seltsam. Natürlich gibt es in moralischen und politischen Fragen Einigkeit und Uneinigkeit. Wir schließen uns politischen Kampagnen an, weil wir uns einig sind, und wir führen Kriege, weil wir uns uneinig sind. Lassen Sie uns hier aber
269 einen Moment innehalten und fragen, wie das überhaupt möglich ist. Viele Wörter hören sich ähnlich an und haben doch unterschiedliche Bedeutungen, und daraus kann eine Art von Einigkeit entstehen, die auf amüsante Weise unecht ist. Wenn Sie und ich übereinkommen, uns morgen an der Bank zu treffen, Sie aber die Sitzgelegenheit meinen und ich das Geldinstitut, werden wir schnell feststellen, daß jene Einigkeit eine Täuschung war. Auch den Wörtern, die wir zur Bezeichnung moralischer Begriffe verwenden, scheinen wir unterschiedliche Bedeutungen zuzuschreiben. Wenn wir etwa glauben, uns darüber uneinig zu sein, ob eine gestaffelte Einkommenssteuer ungerecht ist, könnte sich sehr wohl herausstellen – und wahrscheinlich wird sich auch herausstellen –, daß unsere Kriterien für Ungerechtigkeit sehr unterschiedlich sind. Vielleicht halte ich ein Gesetz für ungerecht, wenn es in das freie Marktgeschehen eingreift, während Sie der Ansicht sind, daß Gesetze ungerecht sind, wenn sie das soziale Leid vergrößern. Warum ist unsere scheinbare Uneinigkeit dann nicht ebenso eine Täuschung wie unsere scheinbare Einigkeit im Fall der Verabredung an der Bank?
    Begriffsarten
    In diesem Kapitel werde ich zeigen, daß wir echte Übereinstimmung und echte Uneinigkeit in moralischen Angelegenheiten nur dadurch begründen können, daß wir die Begriffe, die wir verwenden, in bestimmte Kategorien einordnen, und zwar auf der Grundlage dessen, wie sie jeweils von uns geteilt werden. Die moralischen und politischen Begriffe, die ich gerade angeführt habe, gehören alle zu einer Begriffsart, die

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