Gerechtigkeit fuer Igel
persönliche Freiheit oder um taktloses Verhalten handelt, ist kontrovers, und wir sind uns auch nicht darüber einig, welche Reaktion durch eine korrekte Anwendung des Begriffs gefordert oder gerechtfertigt werden würde. Wir stimmen aber in ausreichendem Maße darin überein, welche Fälle wir als paradigmatisch für den Begriff ansehen und was paradigmatisch für einen angemessenen Umgang mit solchen Fällen ist, um auf eine für jeden von uns verständliche Weise argumentativ verteidigen zu können, daß ein bestimmter Wert jene geteilten Paradigmen am besten rechtfertigt.
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Wir sind uns zum Beispiel einig, daß es ungerecht wäre, hart arbeitenden armen Bevölkerungsschichten Steuern aufzuerlegen, von denen nur faule reiche Menschen profitieren würden, oder einen Menschen zu verurteilen und zu bestrafen, obwohl bekannt ist, daß er kein Verbrechen begangen hat, obwohl wir in anderen Gerechtigkeitsfragen vollkommen unterschiedlicher Meinung sind. Weil wir hinsichtlich paradigmatischer Fälle wie diesen in so hohem Maße übereinstimmen, können wir unser Urteil in diesen Fällen mit Theorien und Interpretationen rechtfertigen, die von anderen als Theorien oder Interpretation desselben Begriffs, also in diesem Fall der Gerechtig
275 keit, verstanden werden. Weil diese sich aber von Person zu Person – teilweise gewaltig – unterscheiden, führt dies dazu, daß der Begriff jenseits jener paradigmatischen Fälle auch ebenso unterschiedlich zur Anwendung kommt. Wenn wir einen interpretativen Begriff miteinander teilen, liegt das ebenso wie im Fall kriteriumsabhängiger Begriffe und solcher, die sich auf natürliche Arten beziehen, daran, daß wir uns in bezug auf etwas einig sind; im Unterschied zu letzteren handelt es sich dabei aber nicht um ein Entscheidungsverfahren, auf dessen Grundlage konkrete Fälle beurteilt werden können. Es kann durchaus sein, daß wir uns hinsichtlich konkreter Fälle vollkommen uneins sind und auch keine Versöhnung möglich scheint oder daß wir dem, was mit dem fraglichen Begriff bezeichnet wird, jeden Wert absprechen. Die Aussage, daß der Gegenstand eines Begriffes keinen Wert hat – denken Sie hier zum Beispiel an Keuschheit, Manieren oder Patriotismus –, setzt voraus, daß der Sprecher in hohem Maße mit jenen Menschen, die hier einen Wert erkennen, hinsichtlich der paradigmatischen Fälle übereinstimmt, weil seine Argumente dafür, daß diese anderen im Irrtum sind, ansonsten überhaupt nicht greifen könnten.
Welches Maß an Übereinstimmung hinsichtlich paradigmatischer Anwendungsfälle und paradigmatischer Umgangsweisen mit denselben notwendig ist, um davon sprechen zu können, daß eine bestimmte Gruppe einen interpretativen Begriff teilt, kann unmöglich eindeutig festgelegt werden, und deswegen wäre es ein Fehler, hier präzisere Vorgaben zu machen. Wir müssen immer wieder die selbst auch interpretative Frage beantworten, gemäß welcher Annahme es als sinnvoller erscheint, wie ein bestimmter Begriff jeweils verwendet wird: gemäß der Annahme, daß echte Einigkeit oder Uneinigkeit vorliegt, oder gemäß der konkurrierenden Annahme, daß die entsprechende Einigkeit oder Uneinigkeit nur eine Täuschung ist. (Ob es sich zum Beispiel beim Begriff der Demokratie, der im Diskurs liberaler Gesellschaften verwendet wird, um denselben han
276 delt, der von sogenannten Volksdemokratien verwendet wird, ist in diesem Sinn eine Frage der Interpretation.) Selbst wenn wir es mit einem Fall radikaler Uneinigkeit zu tun haben, müssen wir trotzdem fragen, ob die Struktur dieser Uneinigkeit besser damit erklärt werden kann, daß beide Seiten einen interpretativen Begriff teilen und sich über dessen genaue inhaltliche Spezifizierung uneins sind, oder ob eigentlich überhaupt keine echte Uneinigkeit vorliegt, wie im Beispiel des Treffens an der Bank. Im siebten Kapitel habe ich darauf hingewiesen, daß es in der ersten Phase einer kollaborativen oder erklärenden Interpretation um die Frage geht, zu welchem Genre eine bestimmte Interpretation gehört. Auch in der begrifflichen Interpretation gibt es eine dazu parallele erste Stufe: Einen Begriff als interpretativ zu behandeln setzt voraus, daß wir meinen, dieses Verständnis interpretiere die entsprechende Praxis besser als ein konkurrierendes Verständnis, dem zufolge Uneinigkeit oder Übereinstimmung nur Täuschungen sind. Auch diese Form der Interpretation ist also durch und durch interpretativ.
Wir müssen daher
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